F. Rosiger, Das Dreigestirn der attischen Tragödie.
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gegen die Maulhelden der Demagogie bestimmten zuweilen unzweideutig
die Tendenz seiner Dramen. Die Verzweiflung hat ihn gegen Ende
des peloponnesischen Krieges aus Athen fortgetrieben, der makedonische
König Archelaos rief die glänzenden Persönlichkeiten der athenischen
Bildung an seinen Hof, wo sie als Ersatz für die zügellose Redefreiheit der
Heimat die Bosheiten höfischer Intrige finden mußten. Für den König
schrieb er ein makedonisches Drama zur Verherrlichung des Grütiders
der Dynastie, fühlte aber auch sonst zu frischem Schaffen sich angeregt.
Doch starb er schon eineinhalb Jahre nach seiner Ankunft; molossische
Hunde sollen ihn zerrissen haben. Dies Ende gab wohl nur ein
fabelnder Literarhistoriker dem athenischen Dichter.
Nur langsam gewann Euripides beim Publikum Boden, von den
92 Stücken, die er geschrieben haben soll, errangen nur wenige den
Preis. Aber allmählich ward er der Lieblingsdichter des heranwachsenden
Geschlechtes, seine Sentenzen waren in aller Munde, die gefangenen
Athener in Sizilien konnten sich retten, wenn sie den Feinden Stücke
aus seinen Dramen vortrugen. Keiner der griechischen Dichter nächst
Homer und Menander ist soviel zitiert worden wie er, so sehr fand man
in ihm den Ausdruck der geistigen Kultur, die Griechenland im Laufe
der Jahrhunderte erreicht hatte. Auch er behandelte für seine Tragödien
den fast unerschöpflich reichen Stoff der Heldensage, und er hatte die
Aufgabe, ihr neue Seiten abzugewinnen oder für die alten Probleme
eine neue interessante Lösung zu finden. Aber das Verhältnis des
Dichters wie des Publikums zum Stoff war ein anderes geworden.
Die erhöhte Stimmung war verschwunden, welche in den weihevollen
Stunden des Dionysosfestes die Gestalten einer Übermenschenwelt in
sich aufnahm; die Seelen waren beschäftigt mit dem, was der Markt
und der Tag brachte. Die Leidenschaften, die verzehrende Unruhe und
die Konflikte, die an den wirklichen Menschen zu beobachten waren,
nahmen das Interesse mehr in Anspruch als die ideal geträumten Heroen
der Vorzeit, denen im Leben so gar nichts entsprach. Diese müssen es
sich gefallen lassen, daß sie zu Spiegelbildern der Gegenwart werden.
Die Könige verlieren den kraftvollen Adel ihrer Heldennatur, sie werden
oft kläglich schwankende Charaktere, und neben ihnen steht das souveräne
Volk, das mit besonderer Kunst und Vorsicht gelenkt sein will und leicht
zur Empörung übergeht. Die Thersites werden nicht mehr mit Prügeln
zur Raison gebracht, sondern haben die Leitung der Dinge in den
Händen. Orestes, der seinen Muttermord vor dem Volksgericht ver¬
antworten soll, sinkt znm gemeinen Verbrecher herab, und ein schreiender
Widerspruch kommt dadurch in den Mythus, dem die Blutrache noch
eine heilige Pflicht, ein anerkanntes Gebot der Gottheit war. Orestes
ist fest überzeugt, daß Agamemnon die Tötung der Klytämnestra nicht
gewünscht hätte, wenn man ihn hätte fragen können; aber er vollzieht