F. Rosiger, Das Dreigestirn der attischen Tragödie.
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(Phädra) zu ihrem Stiefsohn und der Kampf zwischen der brennenden
Glut ihrer Neigung und dem Schamgefühl, die Rache der eifersüchtigen
Gattin (Medeia), die, um den ungetreuen Gatten zu vernichten, ihm
nicht bloß die Verlobte tötet, sondern auch die eigenen Kinder nicht
schont, die Rache einer Mutter (Heknba), die wie eine rasende Löwin
für den ermordeten Sohn den Feind in kannibalischer Weise büßen laßt,
die verzückte Raserei der Bacchantinnen, die auf Bergeshöhen in wildem
Tanze sich schwingen, junge Rehe zerreißen und junge Wölfe säugen,
und unter ihnen das wahnbetörte Treiben der Mutter (Agaue), die den
einzigen Sohn, den Gottesverächter, mit grausamer Wollust zerfleischt,
weil er die geheime Feier belauscht hat — das sind Probleme, die er
mit packender Lebenswahrheit zu behandeln verstanden hat. Auch die
raffinierte List des Weibes, das in seiner Verstellungsknnst und Lügen-
schlanheit noch einen Ausweg findet, wo Männerverstand versagt, hat er
mehr als einmal in Tragödien zum Hebel der Handlung gemacht und
ihnen dadurch den Charakter von Jntrigenstücken gegeben. Häufig be¬
gegnen wir Schmähungen gegen das weibliche Geschlecht; die Frauen
bezeichnen sich selbst als unnütze Wesen, Meisterinnen in allen Ränken
und Tücken, unfähig zum Guten, die Quelle aller Leiden der Mensch¬
heit. Die Frage der Frauenerziehung war damals ein Gegenstand der
Diskussion, aber Euripides gibt durch seine Personen wohl das Urteil
ab: die wohlunterrichteten Frauen seien noch die schlimmsten und die
Nullen die besten, die für das männliche Regiment eben ungefährlich
waren. Unter den Zofen ist die Gesinnung häufig, die über Schwächen
und Sünden den Trost einer gefälligen Allerweltsmoral breitet, welche
in bequemer Klugheit sich mit allen Bedenken abfindet. Doch wird auch
das harte Los der Frauen beklagt, das sie mit der Hochzeit ganz dem
Willen eines sremden Mannes unterwirft, und goldene Worte preisen
das Glück einer rechten Ehe. Auch zeichnen sich manche Frauencharaktere
bei Euripides gerade durch den reinen Adel edelsten Gemütes aus.
Alkestis ist bereit, in die Unterwelt hinabzugehen, um Admet, ihren
Gatten, zu retten; Iphigenie, die liebliche Jungfrau, soll in Aulis ge¬
opfert werden, damit die griechische Flotte nicht mehr durch widrige
Winde auf der Fahrt nach Troja zurückgehalten wird, Achill will sie
schützen, auch gegen den Vater, der sie für das Gemeinwohl und den
eigenen Ehrgeiz hat hingeben wollen. Da entschließt sie sich helden¬
mütig, für Griechenland zu sterben, und doch hat sie noch eben den
Vater mit rührender Gewalt angefleht, ihr junges Leben nicht hinzu¬
schlachten. Und so opfert sich auch Makaria für ihr Geschlecht, Euadne
folgt in schwärmerischer Liebe dem gefallenen Gemahl in den Tod im
brennenden Scheiterhaufen.
Gerade das Heldentum des Duldens und der freiwilligen Hingabe
des Lebens hat Euripides lieber dargestellt, als das Heldentum trotziger