Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

F. Rosiger, Das Dreigestirn der attischen Tragödie. 111 
einander. Mit wunderbarer Frische schildert er in den „Bakchen" das 
Leben der Tierwelt in der unentweihten Berg- und Waldeinsamkeit. 
Euripides verstand das dramatische Handwerk wie einer: mit 
raffinierter Kunst wußte er den Effekt zu steigern, itm die Hörer in 
atemloser Spannung zu erhalten und diese dann in volle Rührung 
aufzulösen. Namentlich die Wiedererkennnngsszenen erhielten durch ihn 
ihre feste Stelle in der Theatertechnik. Die griechischen Helden waren 
ja ein schweifendes, viel umhergetriebenes Geschlecht; vom Wieder¬ 
sehen getrennter Verwandter und Gastfreunde unter seltsamen Umständen 
wußte die Sage genug zu erzählen. Euripides weiß diese Szenen so 
zu führen, daß der Zuschauer fürchten muß, die nahestehenden einander 
Suchenden werden ahnungslos durch einander ins größte Leid kommen. 
Der Sohn kehrt nach Hause, um den Thron seiner Väter einzunehmen, 
die Mutter muß ihn aber gerade für den Mörder des Sohnes halten, 
sie muß selbst gegen ihn die Axt schwingen, um gegen ihn den tödlichen 
Streich zu führen — da endlich kommt es zur Erkennung. Jphigenia, 
die Priesterin im Heiligtum der Artemis im tanrischen Lande, kommt 
in Gefahr, ihren Bruder, der das Bild der Göttin zu seiner Entsühnung 
entführen soll, nach der Sitte zum Opfer zu weihen. Träume müssen 
ihr die Vorstellung erweckt haben, ihr Bruder sei tot, und die Trauer 
um den Toten muß sie gegen alle Hellenen erbittern; so muß sie bereit 
sein, gerade in diesem Augenblick den Bruder zu töten. Mit solch aus¬ 
gesuchter Kunst behandelte Euripides besonders einzelne Situationen. 
Nicht in der sorgfältigen Durchführung eines Planes suchte oft der rasch¬ 
arbeitende Dichter die Aufgabe seiner Tätigkeit, sondern in der Erfindung 
und effektvoller Szenen, die mitunter nur lose verknüpft 
sind. In einem Prolog teilt bei ihm meist eine Person alles dasjenige 
mit, was zum Verständnisse der Handlung erforderlich ist, und häufig 
läßt er durch einen ckerm ex machina den Schluß herbeiführen, weil 
er ihn aus den Charakteren nicht ableiten konnte. Auch der Chor ist 
bei ihm oft nur äußerlich mit der Handlung in Verbindung gesetzt, und 
nach Art einer Zwischenmusik muß er die Pausen zwischen den Akten 
ausfüllen. 
In den zahlreichen Sentenzen, in der philosophischen Durchdringung 
des Standpunktes, den die einzelnen Personen einnehmen, in der Reflexion 
über Probleme, moralische und religiöse, politische und soziale, kommt 
die reiche Gedankenbildung des Dichters zum Vorschein. Mit scharfer 
Dialektik wissen die Gegner im Spiel ihre Sache zu führen, als hätten 
sie in dem athenischen Gerichtshof oder in den Debatten der Volks¬ 
versammlung ihre Studien gemacht, und die Sophistik der Leidenschaft, 
die von der willigen Vernunft Gründe leiht, um sich vor der Sittlichkeit 
zu rechtfertigen, wird von seinen Gestalten mit Virtuosität geübt. 
Mochte er auch nicht Lehrer des Volkes sein, wie seine Vorgänger,
	        
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