Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

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Prosaheft VII 
die Epoche datieren muß, wo seine Kenntnis der Welt und des mensch¬ 
lichen Herzens und ebenso seine Sympathie mit menschlichen Leiden und 
Freuden sich zu vertiefen begann. 
Und nun kam Shakespeares Gang oder, wenn man will, seine 
Flucht nach London. Zu Anfang des Jahres 1585 hatte sich seine 
Familie um ein Zwillingspaar vermehrt: Hamnet und Judith, die am 
2. Februar getauft wurden. Man darf vermuten, daß William nicht 
lange darauf die Heimat verlassen hat, um in der Hauptstadt sein Glück 
zu versuchen. Der Zeitpunkt jener Hedschra ist uns nicht genauer be¬ 
kannt, denn an dieser Stelle klafft in der Biographie des Dichters eine 
große Lücke. Bis zum Jahre 1592 fehlen uns alle und jede Nach¬ 
richten über ihn, und das erste, was wir dann über ihn hören, zeigt 
uns, daß er in London und in seinem neuen Wirkungskreis ganz und 
gar festen Fuß gefaßt hat. Die Zeit von Shakespeares Ankunft in 
der englischen Hauptstadt bis zum Jahre 1592, die wir nur mittels 
Kombination und Phantasiegebilden auszufüllen vermögen, muß in dem 
Leben des Dichters von der höchsten Bedeutung und größten Tragweite 
gewesen sein. In jene Zeit fällt sein eigentliches Ringen mit der Welt, 
mit dem Schicksal, in jene Zeit fallen zweifellos neue schwere Kämpfe, 
die Shakespeare gegen sich selber zu bestehen hatte, alles Krisen, ans 
denen er nicht unversehrt, jedoch siegreich mid innerlich erstarkt und 
gereift hervorging. In jene Zeit fällt die ungeheuere Erweiterung 
seines geistigen Horizonts, wie sie der Übergang aus der Stratforder 
Enge und Stille auf den lauten Markt des englischen Lebens für den 
Dichter im Gefolge hatte. 
Und hier müssen wir uns die große geschichtliche Epoche vergegen¬ 
wärtigen, in der England sich seiner europäischen Mission bewußt wurde, 
und wo es zu gleicher Zeit die Arme nach der neuen transatlantischen 
Welt auszustrecken begann; die Zeit, wo die Wogen des englischen 
Volkslebens so hoch gingen und das Nationalgefühl eine so ungeheuere 
Steigerung erfuhr; die Zeit, wo England auch in der jungen Wissen¬ 
schaft des geistig erneuerten Europas seinen Platz sich zu erobern be¬ 
gann und wo die englische Dichtung einen Flug wagte wie nie zuvor, 
sich zu Höhen emporschwang, die sie auch später nicht wieder erreicht 
hat. In jener Epoche haben wir uns den jungen Provinzler auf das 
Pflaster der großen Hauptstadt versetzt zu denken mit seiner natur¬ 
wüchsigen Art, seiner geistigen Frische, seinem feinen Beobachtnngssinn, 
seiner bereits reichen inneren Erfahrung, seinem Lerneifer, seiner Auf¬ 
nahme- und Begeisterungsfähigkeit und vor allem mit jener unver¬ 
wüstlichen Kraft, jener Gewandtheit und Ausdauer, die ihn im Kampf 
des Lebens, auch wo er strauchelte, niemals zu Falle kommen ließ. 
Damals ist Shakespeare der Sinn für Geschichte und Politik erst recht 
aufgegangen; damals hat er die Lücken seiner literarischen Bildung aus¬
	        
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