Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

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Prosaheft VIL 
welche dem Menschengeschlecht mehr Böses als Gutes gebracht hat. 
Lassen wir die Religionen von Gott reden und hüten wir uns, in der 
Absicht, sie zu vereinfachen, sie zu zerstören. Rühmen wir uns nicht 
unserer Überlegenheit; ihre Formeln sind nur um ein geringes mehr 
mythisch als die unsrigen, und sie haben große Vorzüge, die wir nie 
erreichen. Eine Formel ist eine Grenze und der Bestreitung ausgesetzt; 
ein Hymnus, eine Harmonie sind es nicht, denn sie enthalten keine Logik 
und haben nichts Disputierbares an sich. Die Dogmen der Katholiken 
stoßen uns ab, ihre alten Kirchen sind unser Entzücken. Die Bekennt¬ 
nisse der Protestanten sind uns gleichgültig, die herbe Poesie ihres 
Gottesdienstes zieht uns lebhaft an. Das Judentum sagt uns wenig 
zu, aber seine alten Psalmen sprechen noch zu unserm Herzen." 
Dies sollten diejenigen nicht vergessen, die durch Philosophie eine 
neue Religion zu zimmern bemüht sind. Eine Religion besteht nicht 
aus begrifflichen Formeln, sondern aus konkreten Symbolen; Symbole 
können aber nicht gemacht werden, sie können nur durch geschichtliches 
Wachstum entstehen. Eine Religion kann neue Elemente aufnehmen, der 
alte Stamm kann neue Schößlinge treiben, aber sie entsteht nicht durch 
Asneratio aequivoca. Wie hat das Christentum in allen Punkten, im 
Glauben wie im Kult, die Verknüpfung mit der Religion Israels fest¬ 
gehalten! Mir scheint, es muß jeden, der für die Poesie der Geschichte 
auch nur ein leises Verständnis hat, unendliche Langeweile mit Gähnen 
und Frösteln überkommen, wenn er gegen eine wirklich geschichtliche 
Religion die Versuche künstlicher Neubildung, wie z. B. Comtes Religion 
der Humanität mit ihren Begriffen und Formeln, ihren Symbolen und 
ihrem Kult, hält. 
Und auch das sollten die Stifter neuer Religionen nicht vergessen; 
daß es ohne das Transzendente keine Religion gibt. Die Beziehungen 
zum Transzendenten abstreifen, heißt die Religion zerstören. Wir können 
einen lebenden Menschen oder eine geschichtliche Persönlichkeit lieben und 
verehren, aber religiöse Ehrfurcht können wir nur vor einem metem- 
pirischen, einem überwirklichen Wesen empfinden. Jedes wirkliche Wesen 
hat Schranken, dem Ideal allein fehlt das Negative. Ein geschichtliches 
Wesen kann Gegenstand religiöser Verehrung nur dadurch werden, daß 
es aus der empirischen Welt herausgehoben und in die Welt der Dich¬ 
tung, der Ideale, der Symbole versetzt wird. Hütten wir statt der vier 
Evangelien eine vierbändige Biographie Jesu, die uns bis ins Kleinste 
alles berichtetete, was er jeden Tag getan und gesprochen hat, der 
Eindruck auf das Gemüt würde unendlich viel geringer sein. Die Bio¬ 
graphie würde den Menschen mit all seiner Bedingtheit zeigen; die 
Evangelien bieten uns wenige große und erhabene Züge, die kleinen 
Züge der alltäglichen Menschlichkeit fehlen oder sind nur leise angedeutet; 
so sehen wir in Jesu das Bild Gottes, des Überwirklichen, Übergestaltigen,
	        
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