Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

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Prosaheft VIL 
werden. Die Theokratie ist von allen Staatsformen der Geschichte die 
unreifste, aber auch die zäheste. Der Staat, der nach unserer historischen 
Erfahrung seine Tätigkeit am allerweitesten ausgedehnt hat, ist der 
merkwürdige Jesuitenstaat in Paraguay gewesen. Er hat Jahrhunderte 
lang unter den Indianern bestanden, und die Rothäute befanden sich 
wohl dabei. Staat und Kirche fielen hier zusammen. Es herrschte 
unter den zur Kirche Jesu bekehrten Wilden ein praktischer Kommunismus, 
wie ihn so folgerecht kein anderes Volk gekannt hat. Ans den Klang der 
Kirchenglocken gingen sie zur Arbeit, zur Mahlzeit, zur Ruhe. Man 
mag eine solche theokratische Staatsallmacht scheußlich finden, aber daß 
dieser Staat ein Staat war, läßt sich nicht leugnen. 
Die Theorie kann also keine Grenze der Staatswirksamkeit auf¬ 
stellen: soweit der Staat das äußere Volksleben beherrschen kann, soweit 
wird er auch suchen es zu beherrschen Eine fruchtbarere Untersuchung 
wird es dagegen sein, das Minimum der Staatstätigkeit theoretisch 
festzustellen: welche Funktionen zum mindesten ein Staat ausüben muß, 
um überhaupt noch Staat heißen zu können. Haben wir dies Minimum 
gefunden, so wird sich weiter die Frage erheben, ob und wie weit der 
Staat vernünftigerweise seine Tätigkeit darüber hinaus noch ausdehnen 
könne. Hier springt in die Augen, daß die nächste Ausgabe des Staates 
eine zweifache ist: er ist Macht nach Außen und Rechtsordnung im 
Innern; seine Grundfunktionen müssen also das Heerwesen und die Rechts¬ 
pflege sein, um die Gemeinschaft seiner Bürger nach außen zu schützen, im 
Innern in Schranken zu halten. Zur Erfüllung dieser beiden Funktionen 
gehören gewisse materielle Mittel; deshalb wird ein Staatshaushalt, 
wenn auch in den primitivsten Formen vorhanden sein müssen, um dem 
Staate diese Mittel zu schaffen. Kann ein Staat diese seine elementaren 
Pflichten nicht mehr erfüllen, so geht er zugrunde. Ausnahmen von 
der Regel finden nur in anormalen Verhältnissen statt, in denen kleinere 
Staaten, welche die Waffen nicht mehr führen können, durch ein künst¬ 
liches Gleichgewicht geschützt werden. Was nun die Rechtspflege im Innern 
anlangt, so ist die Tätigkeit des Staates hier eine mannigfaltige. Er 
hat zunächst im Privatrecht dem Wille:: des Einzelnen seine bestimmten 
Schranken zu setzen. Jedoch wird auf diesem Gebiete seine Tätigkeit 
nur verhältnismäßig untergeordnet sein; denn niemand ist verpflichtet, 
von seinem Privatrecht Gebrauch zu machen. Hier will der Staat nicht 
unmittelbar gebieten, sondern tritt nur vermittelnd ein; die Ausfiihrung 
der Ordnung überläßt er dem freien Willen der Kontrahierenden. Wenn 
im Zivilgesetz der Satz steht: Kauf bricht Miete, so soll damit nicht gesagt 
sein, daß dieser Satz in allen einzelnen Fällen gelten muß; er tritt nur 
dann in Kraft, wenn die Kontrahenten nichts anderes ausgemacht haben. 
Der Staat greift also mit seinen Regeln hier nur ein, um für den Fall 
des Streites feste Rechtspunkte zu geben. Intensiver ist seine Wirk¬
	        
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