Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

H. v. Treitschke, Der Zweck des Staates. 
507 
des Individuums ist hier alles. So ist in Amerika die Gesellschaft noch 
stärker als der Staat. Der amerikanische Lelk-macks mau ist das beste 
Beispiel für die Entwickelung des sozialen Lebens in jungen Kolonien. 
Es gibt Naturen, die in der Dollarjagd des amerikanischen Lebens ihre 
Befriedigung finden, aber im allgemeinen können wir behaupten, daß 
man in dem alten knlturdurchtränkten Europa intensiver, menschlicher 
lebt als drüben bei den Jankees. Der amerikanische Historiker Ban- 
eroft, der sein Heimatland grenzenlos liebte, gestand doch, daß er dort 
auch nicht annähernd eine solche Gesellschaft finden könnte, wie in Berlin. 
Die eigentümliche Dünne der geistigen Lust in jungen Pfianzungsländern 
hat für feine Naturen etwas Abstoßendes. 
Unter den alten Kulturstaaten Europas sind es zwei, in denen die 
Staatstätigkeit gegenwärtig am meisten entwickelt ist und die deshalb für 
die Wissenschaft sehr interessant sind: England und Deutschland. In Eng¬ 
land selbst, das wegen seiner sicheren insularen Lage so leicht keine Kriege 
zu fürchten hat, läßt man zwar die großen nationalökonomischen Mächte 
in einer Freiheit gewähren, die der Staat bei uns gar nicht gestatten 
kann, desto großartiger aber zeigt sich die englische Staatsgewalt in der 
Anlage und Ausbeute der Kolonien, wo eine der entwickeltsten Staats¬ 
tätigkeiten entfaltet wird, welche die Geschichte kennt. In Deutschland 
dagegen finden wir eine sehr komplizierte Staatstätigkeit im Innern des 
Staates. Wir sind in unserer politischen Entwickelung später gekommen 
als die übrigen europäischen Staaten, deshalb können wir auch universeller 
sein als sie; wir haben die Lehren unserer Vorgänger benutzen können, 
wie sich das ja auch in der Entwickelung unserer Literatur zeigt. Un¬ 
zweifelhaft hat Deutschland auf dem Gebiet der Staatswissenschasten im 
neunzehnten Jahrhundert die Führung übernommen, nachdem es zwei 
Jahrhunderte hindurch von Fremden abhängig gewesen war. Die oft ge¬ 
waltsame Lösung der Fäden unserer Entwickelung und der verworrene 
Gang unserer Geschichte haben wenigstens den Vorteil gehabt, uns vor 
politischen Traditionen und Vorurteilen zu bewahren, durch die andere 
Völker leicht die Klarheit des politischen Denkens und Urteilens 
verlieren. 
Die komplizierte Tätigkeit unseres Staates ergibt sich ans unserer 
Weltstellung, Geschichte und geographischen Lage, vermöge deren wir 
Zwecke verfolgen müssen, die sich nach der Meinung anderer Völker 
ins Gesicht schlagen. Wir sind der einzige Staat, der völlige Parität 
der beiden Kirchen anerkennt; wir können eine Kirche, die sich für die 
allein seligmachende hält, ruhig bestehen lassen neben den anderen Kirchen. 
Die Katholiken unter uns haben sich großenteils einer Kultur unter¬ 
worfen, die in ihrem Wesen protestantisch ist. Ferner sind wir das 
am meisten monarchische Volk Europas; wir müssen aber damit eine 
angesehene Volksvertretung in Einklang zu bringen suchen. Wir haben
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.