H. v. Treitschke, Der Zweck des Staates.
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des Individuums ist hier alles. So ist in Amerika die Gesellschaft noch
stärker als der Staat. Der amerikanische Lelk-macks mau ist das beste
Beispiel für die Entwickelung des sozialen Lebens in jungen Kolonien.
Es gibt Naturen, die in der Dollarjagd des amerikanischen Lebens ihre
Befriedigung finden, aber im allgemeinen können wir behaupten, daß
man in dem alten knlturdurchtränkten Europa intensiver, menschlicher
lebt als drüben bei den Jankees. Der amerikanische Historiker Ban-
eroft, der sein Heimatland grenzenlos liebte, gestand doch, daß er dort
auch nicht annähernd eine solche Gesellschaft finden könnte, wie in Berlin.
Die eigentümliche Dünne der geistigen Lust in jungen Pfianzungsländern
hat für feine Naturen etwas Abstoßendes.
Unter den alten Kulturstaaten Europas sind es zwei, in denen die
Staatstätigkeit gegenwärtig am meisten entwickelt ist und die deshalb für
die Wissenschaft sehr interessant sind: England und Deutschland. In Eng¬
land selbst, das wegen seiner sicheren insularen Lage so leicht keine Kriege
zu fürchten hat, läßt man zwar die großen nationalökonomischen Mächte
in einer Freiheit gewähren, die der Staat bei uns gar nicht gestatten
kann, desto großartiger aber zeigt sich die englische Staatsgewalt in der
Anlage und Ausbeute der Kolonien, wo eine der entwickeltsten Staats¬
tätigkeiten entfaltet wird, welche die Geschichte kennt. In Deutschland
dagegen finden wir eine sehr komplizierte Staatstätigkeit im Innern des
Staates. Wir sind in unserer politischen Entwickelung später gekommen
als die übrigen europäischen Staaten, deshalb können wir auch universeller
sein als sie; wir haben die Lehren unserer Vorgänger benutzen können,
wie sich das ja auch in der Entwickelung unserer Literatur zeigt. Un¬
zweifelhaft hat Deutschland auf dem Gebiet der Staatswissenschasten im
neunzehnten Jahrhundert die Führung übernommen, nachdem es zwei
Jahrhunderte hindurch von Fremden abhängig gewesen war. Die oft ge¬
waltsame Lösung der Fäden unserer Entwickelung und der verworrene
Gang unserer Geschichte haben wenigstens den Vorteil gehabt, uns vor
politischen Traditionen und Vorurteilen zu bewahren, durch die andere
Völker leicht die Klarheit des politischen Denkens und Urteilens
verlieren.
Die komplizierte Tätigkeit unseres Staates ergibt sich ans unserer
Weltstellung, Geschichte und geographischen Lage, vermöge deren wir
Zwecke verfolgen müssen, die sich nach der Meinung anderer Völker
ins Gesicht schlagen. Wir sind der einzige Staat, der völlige Parität
der beiden Kirchen anerkennt; wir können eine Kirche, die sich für die
allein seligmachende hält, ruhig bestehen lassen neben den anderen Kirchen.
Die Katholiken unter uns haben sich großenteils einer Kultur unter¬
worfen, die in ihrem Wesen protestantisch ist. Ferner sind wir das
am meisten monarchische Volk Europas; wir müssen aber damit eine
angesehene Volksvertretung in Einklang zu bringen suchen. Wir haben