Full text: Deutsches Lesebuch für Obersekunda (Teil 7)

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miterlebenden Auditorium, gehören nur scheinbar einer anderen Rategorie 
von Schaffenden an. Vas Beste leisten auch sie nur in dem Moment, wo ihr 
verstand nicht weiß, daß noch andere in der Nähe sind, wo sie sich der 
Produktion oder Reproduktion ganz hingeben. 
Unter diesem Gesichtswinkel muß das Erzeugnis der bewegten Menschen- 
seele, das Bild, das Musikstück, das Gedicht, zuerst betrachtet werden. Cs 
ist als Produkt einer Empfindung das Echo eines Eindruckes, den die Welt 
auf ein Menschengemüt von starker Empfindung gemacht hat, ganz auf 
sich gestellt. Es hat mit dem Publikum zunächst gar nichts zu tun, und 
das Publikum hat weder Anspruch noch Anrecht darauf, wer die bekannten 
und oft gehörten Wendungen in den Mund nimmt: vom Rünstler verlange 
ich, der Rünstler soll, der Rünstler muß,— der beweist damit nur, daß er keine 
Ahnung hat, wie das Runstwerk entsteht. Mit solchen Forderungen mag er 
dem Handwerk gegenübertreten, das ihm dient, er mag sie vor der breiten 
Masse der künstlerischen Produktion erheben, der Marktware, die einem vor¬ 
handenen Bedürfnis entgegenkommt. Rach der Runst des Genies hat kein Mensch 
auf der Welt Bedürfnis, ehe sie da ist, außer dem einen, der sie erzeugt. 
Den anderen wird sie Bedürfnis nur, soweit sie sie nachzuempfinden, das 
heißt nachzugestalten imstande sind. Vas Runstwerk hat die Eigenschaft, 
die Empfindung, aus der es entsprungen ist, in anderen Seelen, die sie 
nicht selbständig haben oder ausdrücken können, wieder zu erwecken. Lichten¬ 
berg hat das einmal in seinem Urteil über Wieland formuliert: „Er spricht 
Empfindungen aus, daß sie wieder Empfindungen werden." 
Das Runstwerk ist Selbstzweck für den, der es schafft, für die anderen 
existiert es erst, wenn es in ihrer Seele auflebt. Dazwischen ist es im 
Grunde gar nicht vorhanden. 
Soll es in einem anderen Menschen wieder lebendig werden, muß dessen 
Seele der des Schöpfers verwandt gestimmt sein. Je näher die nachschaffende 
Seele der des Schaffenden steht, desto näher kommt ihr Genuß am Runst¬ 
werk dem des Urhebers, wer wird so tief von dem Werk des Musikers er¬ 
schüttert und mitgerissen wie der verwandte Schöpfergeist? wer steht vor 
einem Bilde bis in alle Fibern durchbebt wie ein Maler? Ist die Seele 
nicht da, in der es aufleben kann, dann ist das Bild nur bemalte Leinwand, 
die Statue ein behauener Stein, das Gedicht bedrucktes Papier, die Musik 
ein Geräusch, — vielleicht nicht einmal ein angenehmes. 
Das ist wörtlich zu nehmen. Das Runstwerk geht als Realität zugrunde, 
wenn die Seelen nicht mehr da sind, die es aufnehmen können, und kann 
eben so leicht verschwinden, wenn sie noch nicht da sind. Die Geschichte be¬ 
weist es auf Schritt und Tritt. Nicht nur die einer fernen Vergangenheit, 
auch die unseres Jahrhunderts, auch die unserer Tage. 
Ein Bürger des römischen Reiches, der im dritten Jahrhundert den 
Besitz seiner Welt an unvergleichlichen, für die Ewigkeit gegründeten Bau-
	        
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