Full text: Dichtung des Mittelalters (Teil 1)

§ 16. Wolfram von Eschenbach. 
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Schon warf den Jagdspieß er gewandt, 
Und mancher Hirsch ward froh ver¬ 
zehret, 
Den er erlegt mit seiner Hand. 
Es fand das Wild sich arg beschweret 
Durch seine Kunst; denn gleicherweise, 
Ob blumensprossend, ob von Eise 
Die Erde starrend war, ihm galt 
Es einerlei — er ging zum Wald. 
Und also nahm er zu an Kraft, 
Daß oft er heimkam so beladen, 
Daß kaum ein Maultier ohne Schaden 
Die Beute hätte weggeschafft. 
So ging er auch an einem Tag 
Nach seiner Art dem Weidwerk nach, 
An einem Berghang niederschweifend 
Und auf dem Blatt dem Wilde pfeifend. 
Da tönte Hufschlag zu ihm her. 
Er greift geschwind zu seinem Speer 
Und lauscht. „Was war's, das ich 
vernommen? 
Will etwa gar der Teufel kommen 
Mit Zornes Grimm? Er mag nur 
geh'n! 
Ich würd' ihn sicherlich besteh'n. 
Die Mutter Grauses von ihm sagt; 
Doch inein' ich, an Mut ist sie verzagt." 
So stand er da in Streitbegehr, 
Sieh! da trottierten Ritter her, 
Gewappnet alle gar und ganz, 
Hell blitzend in der Sonne Glanz. 
Der Knabe wähnte sonder Spott, 
Ein jeder ihrer sei ein Gott. 
D'rum warf er nieder auf die Kniee 
Sich mitten in den Weg und schrie: 
„Hilf Gott, denn du kannst Hülfe 
reichen!" 
Der vorderste hieß zornig weichen 
Den unberatenen Waleisen \ 
Der ihn im vollen Laufe still 
Zu halten zwang mit seinem Preisen; 
Wobei ich nur bemerken will: 
Den einen Ruhm, wie an uns 
Bayerns 
Muß ich auch an Waleisen feiern. 
Wenn tapfer zwar, täppischer doch 
Als bayrisch Volk sind diese noch. 
Wer fein Geschick in diesen beiden 
Landen 
Zur Welt mitbringt — ein Wunder 
ist vorhanden. 
Noch lag der Knab' auf seinen Knieen, 
Als noch ein Ritter, schon geziert, 
Mit Eil' heran kam galoppiert. 
Es trug ein stattlich Streitroß ihn; 
Er schien zum Kampfe ausgeritten, 
Denn wenig war vom Schilde ganz. 
Graf Ultra-Lak Karnahkarnanz — 
„Wer sperrt den Weg?" — mit 
rauhen Sitten 
Schnaubt also er den Knaben an. 
Doch diesem, wie ein Gott gethan 
Erschien auch er, da vorher nimmer 
Sein Aug' erblickte solchen Schimmer. 
Der Wappenrock in schönen Wellen 
Fiel bis zur Erde; an den Zügeln, 
An Schild und auch an beiden Bügeln 
Erklangen kleine gold'ne Schellen, 
So daß, wenn von des Gegners Degen 
Im wilden Kampf der Schild er¬ 
dröhnte, 
Ihr Klingen hold dazwischen tönte. 
Doch sanftern Tones fragt' entgegen, 
Bezwungen von der Schönheit Glanz 
Des Knaben, d'rauf Karnahkarnanz: 
„Nun sagt mir, Jungherr, sonder 
Weile: 
Saht Ihr zwei Ritter hier mit Eile 
Vorübersliehen? Eine Schande 
Sind sie dem ganzen Ritterstande, 
An Männertugend gar verzagt. 
Gewaltsam führten eine Magd 
Sie mit sich, die sie frech geraubt." 
Der Knabe nach wie vor doch glaubt, 
1 Einwohner von Valois. 
2 Wolframs Heimat lag im bayerischen Nordgau.
	        
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