4. Volksdichtung.
111
Cäsar, Hoffnung und Freude bei seiner Rückkehr, Hoffnung goldener
Zeiten, alter Sitten, Wünsche für Augustus und die ewige Sicherheit des
Staates, ein säkularischer Gesang schließen. Welcher römische Dichter hat
edler gereift als Horaz? Wer hat sich und allen Zeiten einen schönern
Kranz gewunden? Auch in der Zusammenordnung der Gedichte, wie ver¬
schiedener Blumen in einen Strauß, ist Horaz angenehm und lehrreich.
Man kann nicht schöner ordnen und sinnvoller wechseln.
Gewöhnlich hat man's nur für Höflichkeit gehalten, wenn Horaz mehr¬
mals versichert, daß er hohen Gegenständen nicht gewachsen sei, daß er
nicht wie Pindar erhaben brause, sondern wie eine Biene geschäftig sammle;
dieses höfliche Wort ist aber Wahrheit. Allen seinen sogenannten erhabenen
Oden merkt man Mühe an; in der Zusammensetzung haben sie Härten und
Spalten, wogegen die sanfteren wie organische Gewächse hervorsprießen,
schöne Gebilde von der Wurzel bis zur Blume. Schlachten, Kriege,
Niederlagen der Völker zu besingen, war dem erfahrenen Manne, der
wohl fah, auf welchem Wipfel der Römer Reich stand, und wie hart
es die Welt drückte, widrig, tödlich.
Religiöse Gegenstände endlich betrachtete Horaz nur menschlich.
Merkur ist ihm Schöpfer einer feinern Menschenbildung in Sitten uub
Sprache; Apollo Geber der Gaben des Gemütes, der besten Geschenke.
Übrigens ist sein verrufenes Glaubensbekenntnis: „Der Götter karger,
seltener Verehrer" u. s. w., über das man viel Ungehöriges gesagt hat,
ebenso verständig als schön eingekleidet. Was macht uns auf eine höhere
Haushaltung aufmerksam, als unvermutet große Veränderungen in der
Welt, der Blitzstrahl des Zeus am wolkenlos heitern Himmel? Auch in
Gegenständen dieser Art kam dem Horaz eine hohe Grazie zu Hilfe.
Lies nun, Jüngling, den liebenswürdigsten der römischen Dichter
und schreibe mir, was du von ihm denkst. Langeweile hat man nie in
Horaz' Gesellschaft. G. Herder *.
4. Volksdichtung.
Der litterarischen Ausbildung und dem Hervortreten schriftstellerischer
Persönlichkeit geht überall ein Zeitalter volkstümlicher Überlieferung voran.
Diese verschiedenen Zustände sind Erzeugnis und Ausdruck der innern
Geschichte des geistigen Völkerlebens. Solang alle Kräfte und Richtungen
des Geistes in der Poesie gesammelt sind, blüht das Reich der lebendigen
Sage; sobald die geistigen Thätigkeiten sich nach verschiedenen Seiten der
Erkenntnis zu sondern beginnen, entfaltet sich die Litteratur. Die Er-
1 Siehe Teil II, S. 129.