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I. Beschreibende Prosa: Litteraturgeschichte.
mannenzüge scheint poetisch festgehalten. Plötzliche Verheerung, Raub und
Brand bricht herein vom Ufer. Burgen und Städte, an der See gelegen,
werden überfallen, belagert, erobert. Auf Inseln treffen sich zögernde und
nacheilende Feinde. Eine Verfolgung soll eingeleitet werden, da findet
man die Schiffe leck, vielleicht durch List angebohrt; aber rasch sind neue
gebaut. In einer furchtbaren Schlacht fällt die ganze junge Mannschaft;
hierauf wird sieben Jahre gewartet, bis die Knaben herangewachsen und
zur Rache tüchtig find. Ein Mohrenkönig Siegfried, der in die Handlung
episodisch eingreift und in Friesland Krieg führt, erinnert an einen gleich¬
namigen Normannenführer, der in den Jahren 885 und 886 die große
Belagerung von Paris leitete und im Herbste 887 bei einem Angriffe auf
die Friesen sein Leben verlor: die heidnischen Normannen wurden auch
sonst in der Zeit der Kreuzzüge mit den Saracenen und Mohren ver¬
wechselt. Aber die eigentliche Fabel des Gedichtes ist einerseits älter,
anderseits jünger.
Ein Mythus von ewigen Kämpfen, die sich täglich erneuen, wahr¬
scheinlich den Wechsel zwischen Tag und Nacht bedeutend, ist darin voll¬
kommen menschlich geworden und hat alles Übernatürliche abgestreift.
Er hat die Gestalt einer jener zahlreichen Frauenraubsagen angenommen,
die sich alle untereinander gleichen: ein Mädchen, dessen Eltern die Freier
abweisen; Entführung; Verfolgung; Kampf; Frieden und Vermählung.
Und wie z. B. der Roman „Rudlieb" in die folgende Generation fort¬
gesetzt wurde, wie die Spielleute sonst gern ihre Geschichten von vorn
anfangen, so hat die viel gefeierte Hilde, welche im Mittelpunkte jener
mythischen Sage stand, eine Tochter Gudrun bekommen, in deren Leben
sich wichtige Motive aus den romantischen Jugendjahren ihrer Mutter
wiederholen. Der Stoff kam in den Niederlanden, wohl im elften Jahr¬
hundert, zur völligen Ausbildung; er wurde an die Normandie angeknüpft
und damit in die allermodernste Sphäre gerückt; er galt als ein episches
Hauptthema und gewann immer größere Beliebtheit, je mehr in der Poesie
die Liebesdinge sich vordrängten. Schon vor 1100 war er in Bayern
bekannt; ein berühmtes für uns verlorenes Gedicht, auf welches geistliche
Poeten des 12. Jahrhunderts anspielen, hat ihn behandelt; und um
1210 widmete ihm ein bedeutender Dichter seine ungewöhnliche Kraft.
Das Werk, das er schuf, wurde wie die Nibelungenlieder durch viele
Zusätze aufgeschwellt und liegt uns so in einer späten Abschrift vor. Die
Entfernung der Anwüchse hat mehrere Kritiker beschäftigt, unter denen
Karl Müllenhoff den ersten Rang einnimmt; und wenn ich an seine Her¬
stellung des ursprünglichen Gedichtes meine Würdigung desselben anknüpfe,
so muß doch betont werden, daß wir hier wie beim Nibelungenliede auf
wissenschaftlichen Vermutungen weiter bauen.