Full text: Beschreibende und lehrende Prosa (Teil 3)

10. Gudrun. 
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Der Verfasser der „Gudrun" hat seinen Stofs in zwei Liedern be¬ 
handelt, deren erstes die Werbung um Hilde, das zweite ungleich längere 
die Geschichte Gudruns erzählt. Die Zweiteilung war gegeben, der Dich¬ 
ter wagte nicht darauf zu verzichten. Die Wiederholung der Motive, 
eine unleugbare Schwierigkeit, wurde für ihn eine Quelle besonderer 
dichterischer Reize; in verwandten Situationen konnte er die Accente ver¬ 
schieden setzen und den Ton der beiden Abschnitte in einen deutlichen 
Gegensatz bringen. Das Lied von Hilde ist Vorspiel, das Lied von 
Gudruns Not und Erlösung bildet den Kern des Gedichtes. Jenes 
hinterläßt eine heitere Stimmung; dieses wird immer düsterer und düsterer 
und streift hart an der Tragik vorbei. Ein ungeheurer Frevel empfängt 
seine Strafe; aber das Glück, welches dahinter liegt, sehen wir nicht. 
Der wilde König Hagen von Irland läßt jeden Freier seiner Tochter 
Hilde erschlagen oder aufhängen. König Hettel von Dänenland will nichts¬ 
destoweniger um sie werben; er schickt zu diesem Zwecke drei seiner Mannen 
aus, Wate, Frute und Horand. Es gelingt ihnen, Hildes Vater über 
ihre Absichten zu täuschen, das Mädchen willfährig zu machen und sie 
durch List zu entführen. Hettel empfängt sie am Ufer; da nahen aber 
auch schon die Schiffe der Verfolger, und mit ihrer Ankunft entwickeln 
sich einige.prachtvolle, malerisch wirksame Scenen, wie sie dem Dichter 
oft vorschweben und seine Darstellungsweise beherrschen. Wir sehen Hagen 
aus dem Schiffe springen und in einem Pfeilregen ans Ufer waten. Wir 
sehen, wie er mit dem furchtbaren Wate kämpft, in Gefahr gerät und 
durch Hettel auf Hildes Veranlassung gerettet wird. Wir sehen, wie 
Hettel, zur Waffenruhe mahnend, den Helm abbindet, die Scharen der 
Kämpfenden dieses Friedenszeichen mit lautem Rufe begrüßen, und der 
wilde Jrenkönig dann auch nicht länger widersteht. Wir sehen endlich, 
wie Hilde, von Horand und Frute geführt, dem Vater zaghaft schuldbewußt 
entgegentritt, wie in dem Alten die Liebe siegt und ihn freundlich macht, 
wie er sie dann vom Schlachtfelde wegführt und schließlich zu Hause 
wieder bei ihrer Mutter sitzt und sich ganz befriedigt über das Los der 
Tochter ausspricht. Eine Menge von Thatsachen, eine durchaus anschau¬ 
liche Folge interessanter Handlungen sind in etwa sechzig Zeilen zu¬ 
sammengedrängt. 
Im Anfange des zweiten Liedes weisen Hettel und Hilde die Werbung 
Hartmuts von der Normandie um ihre Tochter Gudrun hochmütig zurück, 
weil er nicht ebenbürtig sei. Auch Herwig von Seeland wird nicht als 
Schwiegersohn angenommen und kündigt infolgedessen Krieg an. Im 
Kampfe gewinnt er durch ritterliche Kühnheit das Herz der zuschauenden 
Gudrun; sie scheidet die Streitenden und wird ihm verlobt. Bald darauf, 
während Hettel seinem künftigen Eidam gegen Siegfried den Mohrenkönig
	        
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