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I. Beschreibende Prosa: Litteraturgeschichte.
Hilfe leistet, wird Gudrun von Hartmut und seinem Vater Ludwig ge¬
raubt. Hettel und Herwig erhalten noch rasch genug Kunde, setzen ihnen
nach und holen sie ein; aber Hettel fällt in der Schlacht auf dem Wülpen-
sande von Ludwigs Hand, und die Räuber ziehen unbemerkt in der Nacht
mit den entführten Frauen ab. Erst nach sieben Jahren voll unsäglicher
Leiden schlägt für Gudrun die Stunde der Befreiung. Ihr Bruder Ort-
win, ihr Verlobter Herwig, die alten Helden Wate, Frute, Horand führen
ein zahlreiches Heer heran; in einer schrecklichen, mit großer Klarheit ge¬
schilderten Schlacht messen sich die Gegner. Ludwig fällt. Hartmut unter¬
liegt fast dem ergrimmten Wate, da bittet seine Schwester Ortrun um
Gnade für ihn bei Gudrun. Gudruns Ruf von der Zinne erreicht den
kämpfenden Herwig, und dieser wehrt mit eigener Gefahr den Todesstreich
von Hartmut ab. Hartmut wird gefangen. Herwig und Gudrun sind
endlich vereinigt.
Wenn im Nibelungenliede Freude sich in Leid verwandelt, so scheint
die Mischung von Leid und Freude, die Durchkreuzung entgegengesetzter
Empfindungen, den Dichter der „Gudrun" besonders angezogen zu haben.
Dreimal wiederholt sich, daß streitende Männer das sittliche Gefühl der
Frauen ehren und Frieden schließen müssen. Dreimal bändigen Frauen
die Männerleidenschaft und treten, nach dem altenglischen Ausdrucke, als
Friedensweberinnen auf. Hilde schickt Hettel aus, um ihren Vater vor
Wate zu schützen; Gudrun trennt Hettel und Herwig; Gudrun schickt
Herwig ans, um Hartmut vor Wate zu schützen. Im ersten Falle wird
besorgte Kindesliebe die Quelle der Versöhnung. Im zweiten Falle er¬
hebt sich aus dem Gewühle des Kampfes die plötzlich aufblühende Minne,
wie eine rettende Göttin aus dem stürmenden Meere. Im dritten Falle
wird edler Anteil vergolten; die Erinnerung an Ortruns und Hartmuts
Mitleid mit der Verbannten ist stärker als Gudruns Rachelust; die hoch¬
herzige Regung siegt über den natürlichen Trieb eines gequälten Gemütes.
In allen drei Situationen vollziehen sich bedeutende Wendungen der Er¬
zählung. Und dort, wo Herwigs tapferes Vordringen in Gudruns Seele
Bewunderung und Liebe für den Feind erweckt, weist der Dichter aus¬
drücklich hin auf den Widerstreit in ihrer Brust: das neue Gefühl „war
ihr lieb und leid". Und beim ersten heimlichen Wiedersehen nach der
langen Trennung — sie in der tiefsten Erniedrigung, er nur erst in der
Hoffnung, sie zu befreien, beide sich nur allmählich erkennend — da, in
ihren Küssen und Umarmungen, wird ihnen beim Gespräche von dem
Erlebten, dem Erduldeten wohl und weh, „lieb und leid".
Nur mit solchen Andeutuugen geht der Dichter auf Empfindungen
ein. Er sucht sie nirgends auszumalen. Er gebraucht die schlichtesten
Worte. Er bewährt eine reise Kunst, welche jede Trivialität verschmäht.