262
II. Lehrende Prosa: Poetik und Ästhetik.
aber nur irgend dem Geiste nach und nicht bloß nach zufälligen Formen
eine Vergleichung zwischen alten und modernen Dichtern1 anzustellen ver¬
steht, wird sich leicht von der Wahrheit desselben überzeugen können. Jene
rühren uns durch Natur, durch sinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegen¬
wart; diese rühren uns durch Ideen.
Dieser Weg, den die neueren Dichter gehen, ist übrigens derselbe,
den der Mensch überhaupt sowohl im einzelnen als im ganzen einschlagen
muß. Die Natur macht ihn mit sich eins, die Kunst trennt und ent¬
zweit ihn, durch das Ideal kehrt er zur Einheit zurück. Weil aber das
Ideal ein Unendliches ist, das er niemals erreicht, so kann der kultivierte
Mensch in seiner Art niemals vollkommen werden, wie doch der natür¬
liche Mensch es in der seinigen zu werden vermag. Er müßte also dem
letztern an Vollkommenheit unendlich nachstehen, wenn bloß auf das Ver¬
hältnis, in welchem beide zu ihrer Art und zu ihrem Maximum stehen,
geachtet wird. Vergleicht man hingegen die Arten selbst miteinander, so
zeigt sich, daß das Ziel, zu welchem der Mensch durch Kultur strebt,
demjenigen, welches er durch Natur erreicht, unendlich vorzuziehen ist.
Der eine erhält also seinen Wert durch absolute Erreichung einer end¬
lichen, der andere erlangt ihn durch Annäherung zu einer unendlichen
Größe. Weil aber nur die letztere Grade und einen Fortschritt hat, so
ist der relative Wert des Menschen, der in der Kultur begriffen ist, im
ganzen genommen niemals bestimmbar, obgleich derselbe im einzelnen be¬
trachtet sich in einem notwendigen Nachteile gegen denjenigen befindet,
in welchem die Natur in ihrer ganzen Vollkommenheit wirkt. Insofern
aber das letzte Ziel der Menschheit nicht anders als durch jene Fortschreitung
zu erreichen ist und der letztere nicht anders fortschreiten kann, als indem
er sich kultiviert und folglich in den erstern übergeht, so ist keine Frage,
welchem von beiden in Rücksicht auf jenes letzte Ziel der Vorzug gebühre.
Dasselbe, was hier von den zwei verschiedenen Formen der Mensch¬
heit gesagt wird, läßt sich auch auf jene beiden, ihnen entsprechenden
Dichterformen anwenden.
Man hätte deswegen alte und moderne — naive und sentimentalische
— Dichter entweder gar nicht, oder nur unter einem gemeinschaftlichen
1 Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu erinnern, daß, wenn hier die neuen
Dichter den alten entgegengesetzt werden, nicht sowohl der Unterschied der Zeit als
der Unterschied der Manier zu verstehen ist. Wir haben auch in neueren, ja sogar
in neuesten Zeiten naive Dichtungen in allen Klassen, wenn gleich nicht mehr ganz
reiner Art, und unter den alten lateinischen, ja selbst griechischen Dichtern fehlt es
nicht an sentimentalischen. Nicht nur in demselben Dichter, auch in demselben Werke
trifft man häufig beide Gattungen vereinigt an, wie z. B. in „Werthers Leiden",
und dergleichen Produkte werden immer den größern Effekt machen.