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II. Lehrende Prosa: Poetik und Ästhetik.
Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen; ich glaube, die drama¬
tische Dichtkunst studiert zu haben, sie mehr studiert zu haben als zwanzig,
die sie ausüben. Auch habe ich sie soweit ausgeübt, als es nötig ist,
um mitsprechen zu dürfen; denn ich weiß wohl, so wie der Maler sich
von niemandem gern tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu
führen weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was
er bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen
vermag, doch urteilen, ob es sich machen läßt. Ich verlange auch nur
eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er
nicht dem oder jenem Ausländer nachplandern gelernt hätte, stummer sein
würde als ein Fisch.
Aber man kann studieren und sich tief in den Irrtum hineinstudieren.
Was mich also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich
das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich
es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen Meister¬
stücken der griechischen Bühne abstrahiert hat. Ich habe von dem Ent¬
stehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine eigenen
Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte. Indes
stehe ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten
auch darüber ausgelacht werden!), daß ich sie für ein so unfehlbares Werk
halte, als es die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grund¬
sätze sind ebenso wahr und gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und
daher mehr der Chikane ausgesetzt als alles, was diese enthalten. Be¬
sonders getraue ich mir von der Tragödie, als über die uns die Zeit so
ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß
sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann,
ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.
Nach dieser Überzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmtesten
Muster der französischen Bühne ausführlich zu beurteilen. Denn diese
Bühne soll ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein, und be¬
sonders hat man uns Deutsche bereden wollen, daß sie nur durch diese
Regeln die Stufe der Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die
Bühnen aller neueren Völker so weit unter sich erblicke. Wir haben das
auch lange so fest geglaubt, daß bei unseren Dichtern den Franzosen nach¬
ahmen ebensoviel gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten.
Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefühl bestehen.
Dieses ward glücklicherweise durch einige englische Stücke aus seinem
Schlummer erweckt, und wir machten endlich die Erfahrung, daß die
Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als ihr Corneille
und Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem plötzlichen
Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Ab-