Full text: Dichtung des Mittelalters (Teil 1)

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Dritte Periode, von 1100 bis 1300, oder erste Blüteperiode. 
Weinmar der Akte. 
Reinmar der Alte oder der von Hagenau, wahrscheinlich die Nachtigall 
von Hagenau, welche Gottfried von Straßburg in der „Schwertleite" 
(s. S. 167) so sehr rühmt, lebte und dichtete am Hofe Leopolds VI. von 
Österreich, den er auch auf dem Kreuzzuge von 1190 begleitet haben soll. 
Sie mijsen's nicht. 
Ich sah gar wonniglich die Au 
Erstehn mit Blumen, weiß und rot. 
Das Veilchen blickt so lieb und blau; 
Die Nachtigall verwand die Not, 
Drob sie im Herbst von hinnen 
schied: 
Der Frühling kam, der Winter flieht, 
So mahnt ihr Lied. 
Seit ich das grüne Laub gesehn, 
Vergaß ich fast auf Gram und Leid; 
Von einem Weib ist mir geschehn, 
So daß ich nun für alle Zeit 
Muß leben froh und wohlgemut; 
Denn alles dünkt mich süß und gut, 
Was sie mir tut. 
Mein Herz verfehrt Betrübnis nie, 
Sie hat mich sorgenfrei gemacht; 
Viertausend Frauen ohne sie, 
Die hätten's alle nicht vollbracht; 
Den Kummer hat sie mir gestillt 
Und ist mir hold und wohlgewillt, 
Wie man auch schilt. 
Daß ihr mein Herz in Liebe treu. 
Gar manche quält das dort und hier; 
Doch kenn' ich drob nicht Angst und 
Scheu: 
Verlorne Müh' ist alles schier. 
Was wollen sie mit Lug und List? 
Sie wissen's nicht, wie's mit uns ist 
In kurzer Frist. (Storck.) 
Klagelied auf den Tod Leopolds (1194). 
Man sagt, es sei der Sommer hie. 
Die Wonne sei gekommen, 
Nun sollt' ich freuen mich als wie vorher; 
So ratet doch und sprechet: wie? 
Der Tod hat mir genommen, 
Was ich verschmerzen werde nimmermehr. 
Was sollen wonnigliche Tage mir, 
Seit Leopold im Grabe ruht, er, aller Freuden Zier, 
Den keinen Tag ich jemals traurig sah! 
Verloren hat an ihm die Welt 
So viel, daß ihr an einem Manne nie 
So großer Schaden noch geschah. 
„Mir armem Weibe war zu wohl, 
Wenn ich gedacht' an ihn, 
Und wie mein Heil an seinem Leben lag. 
Nun ich das nicht mehr haben soll, 
Drob geht mit Jammer hin 
Die Zeit, die ich noch leben mag.
	        
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