Full text: Dichtung der Neuzeit (Teil 2)

§ 36. Goethes Werke. — Die dramatischen Werke. 189 
voll; Dorothea, voll inneren, seelenstarken Adels, mitleidig, aber auch 
tatkräftig, selbst kühn und tapfer entschlossen; der Pfarrer, fromm, 
würdig und einsichtsvoll, eine „Zierde der Stadt"; der Apotheker, 
ordnungsliebend, redselig, neugierig, aber selbstsüchtig und der höheren Ziele 
bar, und endlich der Richter, gemessen, ehrwürdig, erfahren, einflußreich 
und beseelt von großer Menschenliebe, so daß alle gern sich ihm unter¬ 
ordnen. So hat Goethe in der Darstellung der lebenswahren Charaktere 
„das genaue Maß der Wirklichkeit nirgends überschritten", und darum ist 
das Werk, eine Perle der Kunst, „ein Buch voll goldener Lehren der 
Weisheit und Tugend", volkstümlich und gründ deutsch. Sein 
Wert wird durch die homerische Weise des Stiles, durch Anschaulichkeit und 
breite Behaglichkeit, noch wesentlich erhöht. Vielleicht hat der Dichter die 
Verbindung deutschen Wesens und griechischer Kunst durch den echtdeutschen 
Namen „Hermann" und den griechischen Namen „Dorothea" andeuten wollen. 
Von den übrigen epischen Werken Goethes („Wahlverwandtschaften" 
1809, eine romanartige Novelle, welche die Leidenschaft behandelt, die sich 
den Gesetzen der Sittlichkeit nicht zu fügen vermag, „Wilhelm Meisters 
Wanderjahre" 1821, beendet 1829) heben wir nur noch hervor seine 
Selbstbiographie „Aus meinem Leben". „Dichtung und Wahrheit" 
(1811, 1812 und 1814). Goethe hat in diesem Meisterwerke histo¬ 
rischer Darstellung sein Leben bis zum 26. Jahre (1775) beschrieben, wie 
er gelebt, geirrt und sich entwickelt hat, ohne jedoch den Inhalt als sichere 
Wahrheit hinstellen zu wollen. Oft hat er wohl absichtlich das Tatsächliche 
mehr dichterisch als historisch behandelt, „um es seinen künstlerischen Zwecken 
dienstbar und angemessen zu machen". Fortsetzung dieser Selbstbiographie 
bilden „Die italienische Reise", „Die Schweizerreise", „Die Campagne in 
Frankreich", „Die Belagerung von Mainz". 
8 36. 
3. Goethes dramatische Werke. 
Das dramatische Hauptwerk der Jugendzeit Goethes, welches 
der Sturm- und Drangperiode angehört, ist „Göh von Berlichingen mit 
der eisernen Hand" (1773). Den Stoff entnahm der Dichter einer 
1731 durch Franck von Steigerwald herausgegebenen trockenen und ver¬ 
worrenen Selbstbiographie Götzens, behandelte denselben aber nach Shake¬ 
speares Vorbild mit großer Freiheit, Unhistorisches1 mit Historischem 
1 „Ich schilderte, wie in wüsten Zeiten der wohldenkende, brave Mann allenfalls 
an die Stelle des Gesetzes und der ausübenden Gewalt zu treten sich entschließt."
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.