Full text: Dichtung der Neuzeit (Teil 2)

§ 13. Drei Dichterpaare. 
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Klopstock, von christlicher Glaubenstiefe durchdrungen und von 
Vaterlandsliebe erfüllt, gab der Poesie einen tiefen, einen christ¬ 
lichen und nationalen Gehalt, er goß ihn in antike Formen ver¬ 
mittels einer kühnen und erhabenen Sprache. Wieland führte gegen¬ 
über der zu sehr dem Erhabenen und Übersinnlichen zugewandten Richtung 
Klopstocks die materielle Richtung zu heiterem Sinnengenuß ein 
und wußte feine leichteren Stoffe mit Witz und Anmut in fließender 
Darstellung zu würzen und sie auch den höheren, bisher nur für fran¬ 
zösische Erzeugnisse schwärmenden Kreisen zugänglich zu machen. Lessing, 
der scharfe und geistreiche Kritiker, schöpfte aus der Quelle des Alter¬ 
tums die richtigen Gesetze der Dramaturgie und schuf die ersten muster¬ 
gültigen Dramen; er bestimmte nach den beiden größten Dichter¬ 
heroen, Homer und Shakespeare, die Gesetze der Poesie und nach 
dem Unterschiede der redenden und bildenden Künste die Gesetze der 
Schönheit; er bildete eine Prosa von ungeahnter Kraft und Fülle. 
Herder, für alles Hohe mächtig begeistert, erschloß, zurückgreifend auf die 
Fundgruben echter Dichtung, den tiefen Gehalt der Volkspoesie, 
brachte uns Homer, das Alte Testament, Ossian^ und Shakespeare näher, 
hob überall das rein Menschliche als das wahrhaft Dichterische hervor 
und wies die dem deutschen Volke eigene Universalität nach. Goethe, 
der größte Dichtergenius, ein Mann seltenster Tiefe und Vielseitigkeit, 
versteht wie kein zweiter die Wirklichkeit zu erfassen, poetisch zu ge¬ 
stalten und objektiv zu allgemeiner Menschlichkeit zu erheben; ihm 
wird alles wie von selbst zur Poesie, lebenswahr nach Inhalt, 
musterhaft nach Form. Schiller, der Dichter der Ideale, der Sänger 
der Freiheit, Vaterlandsliebe und Sittlichkeit, verfolgt rastlos die Idee 
einer ästhetischen Erziehung der Nation; er läßt seine idealen Ge¬ 
stalten des Dramas, in welchem seine eigentliche Größe beruht, ringen 
mit der Wirklichkeit, mit der Welt und ihren Leidenschaften im Kampfe 
für das Wahre, Edle und Schöne. 
In Goethes und Schillers Freundschaftsbund erreichte die Poesie 
ihren Höhepunkt; denn durch denselben wurden „die beiden ewigen 
Gegensätze: Idealismus und Realismus, Subjektivität und Objektivität in 
Eintracht gepaart". 
1 Ossian nach alter Sage ein keltischer Barde des 3. Jahrhunderts, dessen 
angeblich wiederaufgesundene Lieder der schottische Gelehrte Macpherson 1762 
herausgab. Sie erregten großes Aufsehen, bis sie als eine Fälschung Macphersons 
erkannt wurden.
	        
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