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Wieland. (1733—1813.)
Desto näher bist du der Gefahr, betrogen zu werden,
30. Oder dich selbst unachtsam in Labyrinthen zu fangen.
Leicht, wenn du ihre unsterbliche Schönheit zu sehen entbrannt bist,
Kann der heftige Wunsch Phantome zur Wahl heit vergöttern.
Hier ist ein Führer dir nöthig. Zwar legte der Schöpfer der Seelen,
Da sie, so viel sein belebendes Lächeln vor andern bezeichnet,
35. Aus Ideen zu Wesen erwuchsen, in jede der Seelen
Fähigkeit und unsterbliche Triebe nach Wahrheit, die immer
Ihre Gränzen erweitern. Doch ist es keiner erlaubet,
Vor der bestimmten Zeit sich über den Zirkel zu heben,
Ob die kühne Begierde die kurzen Flügel gleich übet.
40. Sie von dem eiteln Bemühn, das ihre Stunden vernichtet,
Abzuhalten, und ihr den gewissen Weg zu eröffnen,
Ist der Verstand, ein Strahl von der Sonne der Geister, den Menschen
Eingegossen, der Strahl, den Engel an ihnen verehren.
Er entspringet aus Gott, und führt zu Gott uns zurücke:
45. Denn der allein ist Wahrheit, das Uebrige alles sein Schatten.
Aber er hat sich selbst in diese nachahmenden Schatten
Blöderen Wesen verhüllt, und ihnen den Lichtstrahl gegeben,
Daß sie durch ihn die Gottheit in allem durchscheinend entdeckten,
Und von der Schönheit, die in der Verdunklung so reizend geblieben,
50. Zur Nachahmung entflammt, nach ihrem Muster sich formten.
Siehe, dies lehrt der Verstand, und ihm gehorchen ist Weisheit
Und der einzige Weg, auf dem uns die Wahrheit begegnet.
Prüfe nach dieser Richtschnur die Weisheit der blöden Sophisten!
Diese der Weisheit Gestalt so schön nachahmende Wolke,
55. Die zwar von fern ein jugendlich Aug' betrügerisch anlockt,
Aber mit ihrem Besitz die Mühe wenig belohnet,
Ihr das Mark des Lebens und wachsame Morgen und Nächte
Aufgeopfert zu haben. Zwar ihre Blicke sind reizend,
Ihre Verheißungen goldner als Gold, und lockten fast Engel
60. Ihrem Sirenenmund zu. — Du glaubtest, sie hörend, der Schlüssel
Zu den geheimsten Tiefen der Schöpfung sei von der Natur ihr
Anvertraut, und das Geringste, wozu sie den Liebling erhebe,
Sei ein irdischer Gott. — Doch nahe, so wird die Erscheinung,
Die dir von fern nüt olympischem Pompe die Augen entzückte,
65. Schnell sich in leichte Gewebe von Lust und Dünsten verlieren;
Wie ein leuchtender Käfer in Sommernächten von ferne
Sternengleich schimmert, und wenn du ihn fängst, ein verächtlicher Wurm ist-
Aber sie täuschet nicht nur dein eitles Umarmen mit Schatten,
Sie entführt dich dem richtigen Pfad und läßt dich im Dunkeln
70. Zweifelhaft unter tausend verflochtenen Wegen zurücke.
Wenn du dann unmuthvoll tappst, so ist es der Zauberin Freude,
Dich mit Strahlen von Hoffnung, die schnell sich entzünden und plötzlich
Wieder verlöschen, zu martern. Und hat sie im nächtlichsten Jrrgang
Lange genug dich gehalten, so webt sie Systeme von Träumen,
75. Zwanzig Schritte vor dir, die lieblich glänzend dir winken,
Wie zum Tempel der Wahrheit; dann eilst du durch dornichte Büsche^
Sie zu erreichen, und wenn du den Fuß in die goldene Pforte
Setzest, ist alles in siebenmal dichtere Schatten zerflossen.
So ist das Ende der Arbeit, worein sie die Thoren verstricket,
80. Die ihr Zauberbild sängt, Verwirrung und Zweifel und IrrthumI
Laß dies, o Jüngling, so fest als ein diamantenes Denkbild
Deinem Geiste vorschweben! Die Weisheit lehret beglückt sein.
Sie ist die Kunst, die Freuden, die uns der Schöpfer erbietet,
Anzunehmen; die Kunst, die Sphäre wirksam zu füllen,
85. Die er uns angewiesen. Sie ist bescheiden und menschlich.
Sie zu finden bedarfst du nicht, über die Wolken zu steigen,
Oder in Tiefen zu sinken. Sie wohnt nicht im fei'rlichen Dunkel,
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