Full text: Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien (Theil 2)

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Goethe. (1719-1832.) 
Läßt sich herab und wandelt nickend 
Ueber goldnen Sand am Bach, 
Und rukt einander an; 
Ihr röthlich Auge buhlt umher, 
Erblickt den Jnnigtrauernden. 
Der Tauber schwingt neugiergesellig sich 
Zum nahen Busch und blickt 
Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an. 
Du trauerst, liebelt er, 
Sei gutes Muthes, Freund! 
Hast du zur ruhigen Glückseligkeit 
Nicht alles hier? 
Kannst du dich nicht des goldnenZweiges freu'n, 
Der vor des Tages Glut dich schützt? 
Kannst du der Abendsonne Schein 
Auf weichem Moos am Bache nicht 
Die Brust entgegen heben? 
Du wandelst durch der Blumen frischen Thau, 
Pflückst aus dem Ueberfluß 
Des Waldgebüsches dir 
Gelegne Speise, letzest 
Den leichten Durst am Silberquell, — 
O Freund, das wahre Glück 
Ist die Genügsamkeit, 
Und die Genügsamkeit 
Hat überall genug. 
O Weise! sprach der Adler, und tief ernst 
Versinkt er tiefer in sich selbst, 
O Weisheit! du redst wie eine Taube! 
6. Prometheus. 
(Der Mensch wäre nicht Gottes Ebenbild, wenn er nicht auch proinetheusactig sd. i. Gott gleich sein wollend; 
werden könnte; wird ec es aber, so ist auch proinetheusactig sein Ende. Denn daS Element, das hier redet, will 
nicht in sich selbst gerechtfertigt sein, sondern trägt seine Verdammlichkeit im Schicksale de§ Prometheus.) 
Bedecke deinen Himmel, Zeus, 
Mit Wolkendunst, 
Und übe, dem Knaben gleich, 
Der Disteln köpft, 
An Eichen dich und Bergeshöh'n; 
Mußt mir meine Erde doch lassen stehn, 
Und meine Hütte, die du nicht gebaut, 
Und meinen Herd, 
Um dessen Glut 
Du mich beneidest. 
Ich kenne nichts Aermeres 
Unter der Sonn', als euch Götter! 
Ihr nähret kümmerlich 
Von Opfersteuern 
Und Gebetshauch 
Eure Majestät, 
Und darbtet, wären 
Nicht Kinder und Bettler 
Hoffnungsvolle Thoren. 
Da ich ein Kind war, 
Nicht wußte, wo aus noch ein, 
Kehrt' ich mein verirrtes Auge 
Zur Sonne, als wenn drüber wär' 
Ein Ohr, zu hören meine Klage, 
Ein Herz, wie mein's, 
Sich des Bedrängten zu erbarmen. 
Wer hals mir 
Wider der Titanen Uebermuth? 
Wer rettete vom Tode mich, 
Von Sklaverei? 
Hast du nicht alles selbst vollendet, 
Heilig glühend Herz? 
Und glühtest jung und gut! 
Betrogen, Rettungsdank 
Dem Schlafenden da droben? 
Ich dich ehren? Wofür? 
Hast du die Schmerzen gelindert 
Je des Beladenen? 
Hast du die Thränen gestillet 
Je des Geängsteten? 
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet 
Die allmächtige Zeit 
Und das ewige Schicksal, 
Meine Herr'n und deine? 
Wähntest du etwa, 
Ich sollte das Leben Haffen, 
In Wüsten fliehen, 
* Weil nicht alle 
Blütenträume reiften? 
Hier sitz' ich, forme Menschen 
Nach meinem Bilde, 
Ein Geschlecht, das mir gleich sei, 
Zu leiden, zu weinen, 
Zu genießen und zu freuen sich, 
Und dein nicht zu achten, 
Wie ich! 
7. Ganymed. 
(Das ist der Gegensatz eines Prometheus, das Bild eines in Gott gleichsam Verschwimmenden. Nur Wenigen ist 
es gegeben, so leicht und süß, wie ein Ganymedes, hinaufgetragen zu werden zum allliebenden Vater; darum 
heißt das Element, das hier redet, GanvmedeS. Der Weg, welcher den Menschen hinaufführt, ist jener, den der 
Christ nennt den „Weg des Kreuzes". Aber einzelne seiner Stunden und Perioden sind auch ganymedeSartig.) 
Wie im Morgenglanze ! Sich an mein Herz drängt 
Du rings mich anglühst, Deiner ewigen Wärme 
Frühling, Geliebter! Heilig Gefühl, 
Mit tausendfacher Liebeswonne Unendliche Schöne!
	        
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