Full text: Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien (Theil 2)

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Theorie und Genie. 
Auch das nicht — 
Hat denn Ihr Meister nicht Theorie?. 
Allerdings! Trotz dem Besten! — Aber ich behaupte, er würde nichts schlechter sein, 
wenn er auch keine hätte. Mit diesem seinen, zärtlichen, richtigen Sinn, womit er geboren 
ist, dieser Kenntniß der besten Werke vor ihm, dieser vieljährigen Uebung würd' er alles, 
was er hervorbringt, allein hervorbringen können. 
Die leichteren, einfacheren Werke vielleicht. Aber auch die schwereren, vollstimmigeren 
Werke? 
Alle, alle. — So wie man in der Tonkunst ohne Gehör, Uebung, Kenntniß der 
Muster nichts vermag, so vermag man mit diesen Erfordernissen alles. Ja, Gehör allein, 
mit einer warmen, innigen Empfindung verbunden, muß schon genug sein. Wie wäre sonst 
der erste vortreffliche Tonkünstler entstanden? 
Vortrefflich, mein Herr, ist ein Verhältnißbegriff. Für seine Zeiten vielleicht war jener 
erste Tonkünstler vortrefflich; für unsere Zeiten wird mehr erfordert. Jetzt bedarf das 
Genie der zwiefachen Bildung, die ihm Muster und die ihm Unterricht geben. 
Bedarf ihrer? Dann ist es nicht mehr Genie. 
Warum nicht? 
Das Genie, mein Herr, ist eine lebendige Flamme, die ihr Licht, wie ihre Hitze, in 
sich selbst hat; eine schöpferische Kraft, deren Werke — — 
Ja, ja! sagte der Mathematiker, der diesen schneidenden, absprechenden Ton eben nicht 
liebte; das Genie, wie ich wohl sehe, ist eine Ausnahme von den Regeln der Natur, ist ein 
Wunder. — Kann ich's Ihnen doch zugeben, daß nicht allein das Genie, daß überhaupt 
jeder Tonsetzer unser entbehren könne! Darum hat noch immer unsere Theorie ihren Werth. 
Für wen — wenn sie für uns keinen hat? 
Für uns selbst. 
Sonderbar! Die Theorie einer Kunst soll für die Kunst selbst entbehrlich und soll 
dennoch schätzbar sein? 
So gut, wie die Sternkunde es ist; obgleich die Gestirne selbst, zur Erfüllung ihres 
harmonischen Laufes, ihrer ewig entrathen könnten. 
O, die Sternkunde! die hat anderweitigen Nutzen. Ohne sie könnte weder Schifffahrt, 
noch Zeitberechnung — — 
Was Schifffahrt und Zeitberechnung! Lasfen Sie weder Schiffe noch Almanache, noch 
Uhren, noch irgend etwas, wozu Sternkunde nöthig ist, in der Welt sein; sie bleibt dennoch, 
was sie ist, eine der ersten, der vortrefflichsten Wissenschaften. 
Wie? ohne zu nützen? 
Was verstehen Sie unter Nützen? — Oder, um kürzer davon zu kommene wozu glau¬ 
ben Sie, daß die Musik nützt? 
Himmel! wozu sie nützt? Die Musik? — Ist sie nicht von allen angenehmen Be¬ 
schäftigungen, die von Menschen erfunden werden, die edelste, feinste? 
So denkt von seiner Kunst jeder Künstler. 
Aber nur Einer mit Recht. 
Das fragt sich. — Doch genug, daß Ihnen angenehm und nützlich nicht sehr weit 
aus einander scheinen, und in der That sind sie's auch weniger, als man glaubt. — Ihre 
Kunst nun ist darum schätzbar, weil sie auf eine angenehme Art Ihre sinnlichen Empfin¬ 
dungskräfte beschäftigt. Nicht wahr? 
Allerdings! Und zwar die höheren, feineren, edleren Empfindungskräfte. 
Wohl! Mir ist wieder die meinige, nach allen ihren verschiedenen Theilen, schätzbar, 
weil sie meine Vernunft und also eine Kraft meiner Seele beschäftigt, die doch, hoff' ich,
	        
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