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Abriß der Literaturgeschichte.
I
Chroniken Platz machen, oder sich in prosaische
Volksbücher auflösen lassen. Gegen Ende
des Mittelalters scheint die Erinnerung an
die alten Heldengedichte noch einmal frisch er¬
wacht zu sein; man suchte sie umzuarbeiten
und namentlich in singbare Strophen zu
setzen; so Kaspar von der Rön. Im Uebri-
gen ging der epische Geist in Satire und
Allegorie über; so das Narrenschiff von Brnnt,
der Theuerdank von Kaiser Max, Reineke
Fuchs. Der Meistergesang hielt sich ursprüng¬
lich ans Lyrische und Didaktische.
Das 16 Jahrhundert bewegt sich hauptsäch¬
lich in Fabeln und Schwänken mit weitge¬
spreizter Form; von eigentlicher Würde der
Kunst empfängt man keine Ahnung. Die
hervorragenden Führer des Jahrhunderts sind
Hans Sachs und Fischart. Die Gelehrten¬
poesie des 17. Jahrhunderts reichte für epi¬
sche Auffassung und Entfaltung nicht aus;
sie haftete am Didaktischen und Gezierten.
Und so trat denn Klopstock's Messias in
jeder Hinsicht wie ein Heros hervor. Im
Uebrigen hat die neue Zeit alle möglichen
epischen Formen, gleichsam mit literarischer
Pslichtmäßigkeit, angebaut; Fabel und Parabel,
Allegorie und Satire, Beschreibung und Be-
lehrrmg, Erzählung und Ballade, Legende
und Idylle, kölnisches, idyllisches, romanti¬
sches und heroisches Epos. Der kleineren
epischen Gedichte gibt es die Unzahl, beson¬
ders der schlechten prätentiösen Balladen, in
denen sich der Mangel an Poesie hinter ge¬
reimter Rhetorik versteckt. Von größeren epi¬
schen Werken sind am bekanntesten: Klop¬
stock's Messias, Herder's Cid, Wieland's
Oberon, Voß'ens Louise, Goethe's Hermann
und Dorothea, Schulze's Cäcilia, Sonnen
berg's Donatoa, Pyrker's Tunisias und als
komisches Epos die Jobsiade. Klopstock aber
ragt wie eilte Alpenhöhe hervor, und Lebens¬
quellen des Epos wie im Mittelalter sind noch
nicht wieder geöffnet worden.
§. 6. .Verlauf der lyrischen Poesie.
Die lyrische Poesie in Verbindung mit
epischen Stoffen, als Gesang auf Personen
und Begebenheiten, war in Deutschland schon
zur Römerzeit einheimisch. Aber auch das
Ludwigslied aus dem 9. Jahrhundert trägt
noch einensolchen Charakter. Einzig in seiner
Art erscheint aus damaliger Zeit das Lied
auf den heiligen Petrus (S. 13). Die eigent¬
liche Lyrik zeigt sich erst im 12. Jahrhundert,
aber auch gleich mit einer Innigkeit und
Wahrheit, einer Leichtigkeit und Anmuth, wie
sie selten gefunden wird. Im Religiösen
verbindet sich damit Schwung und Tiefe;
im Uebrigen ist der Kreis, worin sie sich bewegt,
ein enger; es ist hauptsächlich die Minne,
d. h. die volle hingebende Liebe (davon der
NameMinnesängersund die Natur. DieHaupt-
formen sind Lied, Leich und Spruch (S. 88).
Die Kirchenlieder heißen Leisen, Kyrleisen
(von Kyrie eleison). An der Spitze der Lyrik
steht Walther von der Vogelweide; es war
aber Deutschland recht wie ein gesangreicher
Dichterwald. Eine Auswahl von Minnelie¬
dern bietet die Manesse'sche Sammlung aus
denr Anfange des 14. Jahrhunderts.
Nach der Blütezeit des 13. Jahrhunderts
erscheint die Lyrik: 1) in den Händen von
gewerblichen Dichtern, die sich ein Geschäft
aus der Dichtkunst machten und allmählich zu
Pritschmeistern und Spruchsprechern herab¬
sanken; 2) als Eigenthum einer Zunft, der
Meistersänger, die sie in ehrsamer Weise unter
Meisterregeln brachten; 3) endlich als frisch
sprudelnder Quell im Volke, woraus die so
genannten altdeutschen Volkslieder hervorge¬
gangen. Mit dem Volksliede verwandt sind
die volksthümlichen Kirchenlieder, welche seit
dem 14. Jahrhundert sich mehren. Volks¬
gesang und Kirchenlied setzten sich auch im 16.
Jahrhundert noch fort, und letzteres empfing
einen neuen Antrieb durch die Reformatoren,
welche für den Gottesdienst sich auf Deutschen
Gesang angewiesen sahen. Im Uebrigen bietet '
das 16. Jahrhundert bei seinem einerseits
satirisch-possenhaften und anderseits zerrissenen,
lieblosen Charakter wenig Sinn für offene,
freie Lyrik. Eben so wenig konnte das 17 .
Jahrhundert mit seiner gelehrten Kunstpoesie
die Quellen der reinen Lyrik öffnen. Balde
mit seinen darstellungsreichen Lateinischen
Oden und Spee mit seiner innigen Wahr¬
heit ragen über alle hervor. Im Uebrigen
erstickten die guten Keime der ersten Schlesi¬
schen Dichterschule alsbald unter poetischen
Aeußerlichkeiten.
Auch das 18. Jahrhundert haftete anfangs
noch zu sehr an dem poetischen „Machen",
dem Gegentheile der wahren Lyrik; so in
der moralisch-religiösen Richtung der Gel-
lert'schen Schule, und so in den Tändeleien
der Anakreontiker neben ihrem Odenschmieden
auf Friedrich den Großen. Klopstock sprengte
die Verhärtung; bei ihm spricht der Mensch,
der ganze Mensch, aus der Fülle und Wahr¬
heit. In der Folgezeit ist es gerade die Lyrik,
welche fast bei allen namhaften Dichtern in
der einen oder anderen Weise zum schönsten
Ausdruck gekommen, so daß aus der unüber¬
sehbaren Gesammtheit sich ein höchst gehalt-
und formreicher lyrischer Blumengarten zu
sammenstellen läßt. Aber eben so wahr ist
es, daß sich durch die neuere Deutsche Lyrik
zwei Grundfehler hindurchziehen: 1. der Mangel