Johann Wolfgang Goeth
109. Frühling. (Aus „Fa,
Vom Eise befreit sind Strom und Büche
Durch des Frühlings holden, belebenden
Blick;
Im Thale grünet Hosfnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
5 Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes;
10 Überall regt sich Bildung und Streben.
Alles will sich mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
15 Mch der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen, flüstern Thor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich kseute so gern;
Sie feiern die Auferstehung des Herrn;
20 Denn sie sind selber auferstanden.
:: Frühling. Natur und Kunst. 163
st" erster Teil, zweite Scene.)
Aus niedriger Häuser dumpfen Ge¬
mächern,
Aus Handwerks- und Gewerbes¬
banden,
Aus dem Druck von Giebeln und
Dächern,
Aus der Straße quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht 25
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß in Breit' und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt 30
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel, 35
Hier ist des Volkes wahrer Himmel;
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darfich's sein.
110. Natur und Kunst.
1. Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir geschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
2. Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemess'nen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
3. So ist's mit aller Bildung auch beschaffen;
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
4. Wer Großes will, muß sich zusammenraffen.
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
11*