Heinrich Heine.
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Es wogten die Fluten,
10 Sie wogten und brausten;
Die Sonne goß eilig herunter
Die spielenden Rosenlichter;
Die aufgescheuchten Möwenzüge
Flatterten fort, lautschreiend;
15 Es stampften die Rosse, es klirrten die Schilde,
Und weithin erscholl es wie Siegesruf:
„Thalatta! Thalatta!"
Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer!
Wie Sprache der Heimat rauscht mir dein Wasser,
20 Wie Träume der Kindheit seh ich es flimmern
Auf deinem wogenden Wellengebiet,
Und alte Erinnrnng erzählt mir aufs neue
Von all dem lieben, herrlichen Spielzeug,
Von all den blinkenden Weihnachtsgaben,
25 Von all den roten Korallenbäumen,
Goldfischchen, Perlen und bunten Muscheln,
Die du geheimnisvoll bewahrst
Dort unten im klaren Krystallhaus.
O, wie hab' ich geschmachtet in öder Fremde!
30 Gleich einer welken Blume
In des Botanikers blecherner Kapsel
Lag mir das Herz in der Brust.
Mir ist, als saß ich winterlange,
Ein Kranker, in dunkler Krankenstube,
35 Und nun verlaß ich sie plötzlich,
Und blendend strahlt mir entgegen »
Der smaragdene Frühling, der sonnengeweckte, -
Und es rauschen die weißen Blütenbäume,
Und die jungen Blumen schauen mich an
40 Mit bunten, duftenden Augen,
Und es duftet und summt und atmet und lacht,
Und im blauen Himmel singen die Vöglein —
Thalatta! Thalatta!
III. Romanzen.
1. Äie Lorelei.
(„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.")
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