Full text: Deutsches Lesebuch für Prima (Teil 8)

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Das geistige Leben des deutschen Volkes im 
neunzehnten Jahrhundert. 
Friedrich paulsen, Zur Ethik und Politik. Gesammelte Vorträge und Kufsätze. 
Berlin o. 3., Deutsche Bücherei. 
"Das abgelaufene Jahrhundert zerfällt in zwei Hälften, die durch die 
große Krise der Jahre 1848 bis 1850 getrennt sind. 
Das halbe Jahrhundert vor der Revolution hat zum Kennzeichen den 
Glauben an Ideen, das nachfolgende halbe Jahrhundert den Glauben an 
die Macht. Das Jahr 1848 sah den versuch der Ideen, sich der Dinge 
zu bemächtigen. Er scheiterte, und es folgte der große Umschlag der Stim¬ 
mung, die tiefe Verstimmung, die über den fünfziger Jahren liegt,- die 
Ideen haben sich als unmächtig erwiesen gegen die gemeine Gewalt: was 
nun? — Seit den sechziger Jahren regt sich, erst zaghaft und verschämt, 
ein neuer Glaube: der Glaube an die Macht und der Mille zur Macht. 
Er gibt dem Nusgang des Jahrhunderts die Signatur. 
verkörpert stellen sich beide Hälften des Jahrhunderts dar in zwei 
Männern von überragender Bedeutung: Goethe und Bismarck,- in jenem 
ist die Freude an der Betrachtung, in diesem der Mille zur Macht die herr¬ 
schende Seele. 
Ls sind die beiden Seelen, die in dem deutschen Volk wohnen. Man 
hat das deutsche Volk das Volk der Dichter und Denker genannt- es wird 
stolz auf den Namen sein dürfen. Jetzt wird man es auch wieder das 
Volk der Kämpfer, der gewaltigen Krieger nennen dürfen, als welches es 
sich ursprünglich in der Geschichte einführte. 
In Goethe haben wir die Verkörperung des ersten Triebes in edelster 
Gestalt: die Lust zur Betrachtung, zur Versenkung in das Mesen der Dinge, 
zum Schauen und Nachbilden der Ideen, der göttlichen Meltgedanken. In 
Bismarck haben wir die altgermanische Kampffreudigkeit, den leidenschaft¬ 
lichen Millen, den grimmigen und tiefen haß. Dort geht die Freude an 
der Betrachtung soweit, daß sie zu einer gewissen Gleichgültigkeit gegen das 
praktisch Notwendige wird,- Goethe kann nicht hassen: auch der Feind wird 
ihm zu einer anziehenden Erscheinung, man denke an sein Verhältnis zu 
Napoleon. Bei Bismarck die entgegengesetzte Einseitigkeit: ihm wird wohl 
im Kampf. Nus dem Minier 1870 in Frankreich wird eine bezeichnende 
Äußerung von ihm berichtet: „Ich glaube, der Krieg ist doch eigentlich der 
natürliche Zustand des Menschen." Darum verachtet er den theoretischen 
Menschen. Mie Luther den Erasmus, den Denker und Zweifler, haßt und 
verachtet, so Bismarck die bloßen Denker, die nicht zum Entschluß kommen, 
die Gelehrten, die nicht handeln, nicht zuschlagen können. In seinen „Er¬ 
innerungen" blitzt dieser haß oft zwischen den Zeilen hervor: Meimar
	        
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