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und der Schätzung, deren sie sich erfreut, entgegen, flirt Anfang des Jahr¬
hunderts war die spekulative Philosophie die führende Macht. Neben ihr
stand die humanistische Philologie: beide darin eins, daß sie lediglich in der
Betrachtung ihr Ziel haben, flm Ende des Jahrhunderts steht die Natur¬
wissenschaft an erster Stelle, und zwar die Naturwissenschaft im Dienst
der Technik und der Medizin. Man achte nur auf das Aufsteigen der tech¬
nischen Hochschulen oder auf den Aufwand, den der Staat für die Wissenschaft
macht - für neue naturwissenschaftliche und medizinische Institute sind immer
neue Millionen vorhanden- wo wäre auch für bescheidenste Bedürfnisse
der Philologie oder der Philosophie heute die offene Hand zu finden?
Und wieder ist es derselbe Zug, der in der politischen Denkweise, in den
Anschauungen der Gegenwart von Staat und Recht als der herrschende
sich zeigt, politische Fragen sind Rechtsfragen, so dachte das Naturrecht
des achtzehnten Jahrhunderts, so dachte der vormärzliche Liberalismus,
so glaubten die Achtundvierziger und setzten ihre Hoffnung auf die siegreiche
Rraft der Ideen und ihre Fähigkeit zu moralischen Eroberungen, politische
Fragen sind Machtfragen, so sprach es Bismarck mit schneidender und ver¬
letzender Schärfe aus, und da ihm die Geschichte recht gegeben hat, so denkt
das deutsche Volk, wie jedes Volk den jüngsten Erfahrungen am meisten
trauend, nunmehr, wie er es gelehrt hat, vielfach bis zur äußersten Ein¬
seitigkeit. Und das gilt nicht bloß von den Fragen der äußeren, sondern
auch der inneren Politik: recht hat, wer den stärksten willen und die Macht
für sich hat. was bedeuten hiergegen alte Papiere? Ein alter Vers: Sie
volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas (So will ich, so gebiete ich - mein
Wille ist Grund genug) hat wohl auch sonst das wirkliche Verhalten
regierender Herren ausgedrückt- als Wahlspruch ist er wohl erst in unsern
Tagen beliebt worden.
Unter den Historikern des jüngsten Zeitalters hat h. v. Treitschke den
größten Einfluß auf die politischen Gedanken der Heranwachsenden Generation
ausgeübt. Mit der ganzen Wucht seiner Beredsamkeit predigt er den Satz:
der Staat ist Macht, der Rrieg seine erste, elementarste Lebensbetätigung,-
er geht so weit, die Idee des ewigen Friedens nicht nur für einen logischen
Schnitzer sondern auch für einen tief unsittlichen Gedanken zu erklären.
Staat und Recht und Verfassungen wachsen, wie organische Natur¬
produkte wachsen, so lehrte die historische Rechtsschule, im Gegensatz zum
Naturrecht des achtzehnten Jahrhunderts, das alles Recht durch die Vernunft
ausgedacht und gemacht werden ließ. Und Savignp, das Haupt dieser
Richtung, der an das Gesetzemachen nicht glaubte und der Zeit ausdrücklich
den Beruf zur Gesetzgebung .abgesprochen hatte, wurde zum Minister für
Gesetzgebung gemacht. Ihm steht Ihering gegenüber, der das Recht als
eine Funktion des Willens faßt und es aus dem Rampf widerstrebender
Kräfte entstehen läßt. Und dem entspricht die Praxis. Auf das Zeitalter