Full text: Deutsches Lesebuch für Prima (Teil 8)

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und der Schätzung, deren sie sich erfreut, entgegen, flirt Anfang des Jahr¬ 
hunderts war die spekulative Philosophie die führende Macht. Neben ihr 
stand die humanistische Philologie: beide darin eins, daß sie lediglich in der 
Betrachtung ihr Ziel haben, flm Ende des Jahrhunderts steht die Natur¬ 
wissenschaft an erster Stelle, und zwar die Naturwissenschaft im Dienst 
der Technik und der Medizin. Man achte nur auf das Aufsteigen der tech¬ 
nischen Hochschulen oder auf den Aufwand, den der Staat für die Wissenschaft 
macht - für neue naturwissenschaftliche und medizinische Institute sind immer 
neue Millionen vorhanden- wo wäre auch für bescheidenste Bedürfnisse 
der Philologie oder der Philosophie heute die offene Hand zu finden? 
Und wieder ist es derselbe Zug, der in der politischen Denkweise, in den 
Anschauungen der Gegenwart von Staat und Recht als der herrschende 
sich zeigt, politische Fragen sind Rechtsfragen, so dachte das Naturrecht 
des achtzehnten Jahrhunderts, so dachte der vormärzliche Liberalismus, 
so glaubten die Achtundvierziger und setzten ihre Hoffnung auf die siegreiche 
Rraft der Ideen und ihre Fähigkeit zu moralischen Eroberungen, politische 
Fragen sind Machtfragen, so sprach es Bismarck mit schneidender und ver¬ 
letzender Schärfe aus, und da ihm die Geschichte recht gegeben hat, so denkt 
das deutsche Volk, wie jedes Volk den jüngsten Erfahrungen am meisten 
trauend, nunmehr, wie er es gelehrt hat, vielfach bis zur äußersten Ein¬ 
seitigkeit. Und das gilt nicht bloß von den Fragen der äußeren, sondern 
auch der inneren Politik: recht hat, wer den stärksten willen und die Macht 
für sich hat. was bedeuten hiergegen alte Papiere? Ein alter Vers: Sie 
volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas (So will ich, so gebiete ich - mein 
Wille ist Grund genug) hat wohl auch sonst das wirkliche Verhalten 
regierender Herren ausgedrückt- als Wahlspruch ist er wohl erst in unsern 
Tagen beliebt worden. 
Unter den Historikern des jüngsten Zeitalters hat h. v. Treitschke den 
größten Einfluß auf die politischen Gedanken der Heranwachsenden Generation 
ausgeübt. Mit der ganzen Wucht seiner Beredsamkeit predigt er den Satz: 
der Staat ist Macht, der Rrieg seine erste, elementarste Lebensbetätigung,- 
er geht so weit, die Idee des ewigen Friedens nicht nur für einen logischen 
Schnitzer sondern auch für einen tief unsittlichen Gedanken zu erklären. 
Staat und Recht und Verfassungen wachsen, wie organische Natur¬ 
produkte wachsen, so lehrte die historische Rechtsschule, im Gegensatz zum 
Naturrecht des achtzehnten Jahrhunderts, das alles Recht durch die Vernunft 
ausgedacht und gemacht werden ließ. Und Savignp, das Haupt dieser 
Richtung, der an das Gesetzemachen nicht glaubte und der Zeit ausdrücklich 
den Beruf zur Gesetzgebung .abgesprochen hatte, wurde zum Minister für 
Gesetzgebung gemacht. Ihm steht Ihering gegenüber, der das Recht als 
eine Funktion des Willens faßt und es aus dem Rampf widerstrebender 
Kräfte entstehen läßt. Und dem entspricht die Praxis. Auf das Zeitalter
	        
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