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säume auch nicht, auf die Lichtträger der letzteren einen Blies zu werfen:
kolossale Balkenarme, die eine Schiffslast heben könnten, hier aber zufällig
bloß einen Leuchter zu tragen haben,- sie rufen dem vorübergehenden zu:
„Ziehst du, was für ein Überschuß von physischer Kraft vorhanden ist, daß
wir selbst für solche Vorrichtung Zyklopenarme verwenden?" Und dann
vergleiche man den neuen Dom und das alte Museum: ist es nicht, als ob
er ihm zuriefe: „Platz da! was machst du dich in deiner Niedrigkeit so
breit?" Und dann durchmustere man die öffentlichen Denkmäler der Um¬
gebung und die Privathäuser der alten und neuen Zeit. Und hat man
so die Bugen auf den Gegensatz eingestellt, dann durchmustere man weiter
die Schöpfungen der Kunst und der Dichtung, des Komans und des Dramas
und überall wird man Züge entdecken, die unsere Betrachtung bestätigen,
bis herab zum Plakat an der Zäule, das nicht mehr mit der ideellen Wirkung
auf die Vorstellung, sondern mit der psychophysischen Wirkung auf das
Nervensystem rechnet. —
Und nun das neue Jahrhundert, was wird es uns bringen? wenn
es dem Philosophen gestattet ist, mit einem Wunsch statt einer Prophezeiung
zu antworten, so sei es dieser: Das letzte Drittel des vergangenen Jahr¬
hunderts hat dem deutschen Volk das Neich, dem Geist einen Leib gegeben.
Das war notwendig, die Grde ist nicht für reine Geister,- auch der Volks¬
geist bedarf der Verkörperung, um sich zu erhalten, er findet sie im Staat,
wöge das neue Jahrhundert nun auch dem deutschen Geist frisches Wachs¬
tum bringen, nachdem es, wie es auch im Individualleben vorkommt, durch
das plötzlich nachgeholte physische Wachstum zeitweise etwas gehemmt zu
sein schien. Wohl sind Macht und Busdehnung einem Volke notwendig,
Stehenbleiben bedeutet unter wachsenden Völkern Zurückgehen. Bber zuletzt
sind es doch nicht die Masse und die äußere Macht, die den Völkern ihren
Bang in der Geschichte bestimmen. Das Volk Israel und das Volk der
Hellenen war äußerlich betrachtet klein und gering unter den Völkern der
Erde, und auch von ihren Kriegstaten weiß die Geschichte nur bescheidene
Dinge zu melden: dennoch sind es Völker ersten Banges- ihre religiösen
Ideen, ihre philosophischen Gedanken, ihre Schöpfungen in der Welt der
reinen Formen sind noch heute wirkende Kräfte im Leben der Menschheit.
Macht ohne Ideen, das ergibt leere Größe, ergibt jenes Bild auf tönernen
Füßen, von dem beim Propheten Daniel zu lesen ist. Macht im Dienst
von Ideen, das ergibt wirkliche Kraft und dauerndes Leben.
Möge es einem Nachfolger, der nach hundert Jahren den Ertrag des
zwanzigsten Jahrhunderts überschlägt, gestattet sein zu sagen, die Geschichte
des deutschen Volkes zeige ihm eine glückliche Verbindung äußeren und
inneren Wachstums, die seltene Synthese: Macht im Dienste von Ideen.