IL Umgang mit dem Nächsten.
30° Eine Eisenbahnfahrkarte.
1. Wer mit der Eisenbahn fahren will, muß sich eine Fahrkarte
lösen. Ab und zu reißt auf etlichen Bahnen der Schaffner auch
des Nachts die Tür auf: „Meine Herren, die Fahrkarten!“ Da gibt's
denn bei den halbverschlafnen Leuten ein Suchen in der Hosentasche,
der Westen- und Rocktasche, im Portemonnaie, in der Brieftasche,
am Hute, jeder hat seine Fahrkarte wo anders stecken. Aber wenn
man sie nur findet! Mancher hat sie so gut aufgehoben, und sie ist
nicht zu kriegen. Die Verlegenheit steigt, und immer heftiger fährt
der Unglückliche in seine Taschen hinein, aus einer in die andre;
die Mitreisenden helfen raten, das macht den Mann noch verwirrter
— endlich sagt er mit matter Stimme: „Ich hab' sie verloren.“ —
2. So ging's einem auf der Reise im Bayrischen. Der Mann mußte
die ganze Strecke bezahlen, die der Zug gefahren war. Als er schmerz¬
lich unter allgemeinem Bedauern Abschied nahm, schrieb sich schnell
noch ein Mitreisender seine Adresse auf, im Falle sich ja die Fahrkarte
fände, um ihm den Betrag zuzustellen. Die Reisenden durchsuchten
nochmals das Abteil — da fand sich die Fahrkarte hinten eingeklemmt
in die Kissen. Der Reisende kam des folgenden Tages zur Hauptstation
und erhob Einspruch, nach langem Hin und Her wurde die Fahrkarte
zurückbezahlt. Er schrieb voll Freude an den Herrn und sandte ihm
das Geld zurück. Der war über den Sieg der guten Sache auch hoch¬
erfreut und dankte dem völlig fremden Manne für seine Mühe. Es
war nur ein geringer Dienst, aber es war doch ein Dienst; denn der
Mann hatte Laufereien und versäumte seine Zeit.
3. Jahre vergingen. Da wird ein gelähmter Mann nach Teplitz
in Böhmen von der Eisenbahn in die Stadt hineingefahren, ein Bild
des Jammers. Niemand ist bei ihm; in Jahresfrist hatte er sein Weib
und seine beiden einzigen Kinder verloren, das hatte ihn niederge¬
worfen und ein Schlagfluß ihn gelähmt. So ward er denn am zweiten