Full text: Literaturgeschichtliches Lesebuch

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der lebt mit den auserlesenen Menschen, in denen der Sinn der Dinge sich 
aussprach. Immer soll der Künstler um diese höchste Aufgabe des Künstler¬ 
tums bemüht sein. Er läßt uns in die tiefste Wahrheit der Dinge sehen 
und löst uns, indem er uns auf den hohen Standpunkt der reinen schauenden 
Erkenntnis stellt, von den kleinen Selbstigkeiten und Sonderinteressen des 
gewöhnlichen Menschenlebens. So begriffen Goethe und Schiller in der 
Kunst die höchste Arbeit des Menschengeistes. Sie war ihnen ein mit 
heiligem Ernst ergriffener Beruf. So waren sie aber auch einig darin, was 
es hieß, wenn man den Deutschen die künstlerische Erziehung brachte. Es 
hieß das Abstreifen jeder Philisterenge, das Loskommen von jeder beschränkten 
Pedanterie, die Erhebung zu einem Leben in der Freiheit der Menschen¬ 
kinder, die mit unbefangenem Sinn die großen Verhältnisse des Daseins 
auffassen und schauen, das Eingehen in ein Leben der schönen Form, d. h. 
des schöpferisch freien und persönlichen Menschentums. Dies alles hat mit 
Schöngeisterei gar nichts zu schaffen,- vielmehr findet es in der 
Schöngeisterei den schlimmsten und gefährlichsten Feind. Es bedeutet eine 
hohe Aufgabe, der der flache Schöngeist gar nicht zu genügen vermag. Aber 
noch heute zeigt der Pedant seine eigene Beschränktheit, indem er jedes 
Streben nach Gestalt und Lebendigkeit der Anschauung und Darstellung 
als Schöngeisterei verdächtigt. Die Erziehungsaufgabe für sich selbst und in 
ihrer Wirkung auch für die Deutschen haben Goethe und Schiller hier erkannt. 
Ihre nationale Bedeutung ruht daraus. Aus Philistern und Pedanten, aus 
einseitigen Fachleuten und dem bloß sinnlichen Volk galt es einen neuen 
Adel zu schaffen, den Adel der wahren und vollendeten Bildung, die nicht 
nach Kenntnissen gemessen wird und die nicht im Fachwissen besteht, sondern 
in der lebendigen Anschauung, in der Teilnahme an dem höchsten Kultur¬ 
besitz, der die Menschen über ihre Sonderinteressen hinweg verbindet, in 
der inneren Freiheit der Persönlichkeit, die ihrer selbst in der Stellung 
zu den ewigen Fragen unbefangen gewiß ist. So sehr sich die Zeiten 
ändern, diese Erziehungsziele bleiben dieselben. In ihnen, die als Idee 
der ästhetischen Kultur im tiefsten Sinne bezeichnet werden können, fand 
sich die Einigkeit zwischen Goethe und Schiller. Sie begriffen darin die 
augenblicklich höchste Aufgabe der Nation. Das Ziel der ksoren sollte sein, 
allem politischen Tagesgeschwätz abgekehrt für diesen Adel der vollendeten 
Bildung und Menschlichkeit ein Grgan zu schaffen und zu wirken. 
Goethe und Schiller fanden sich also zusammen in der leitenden Idee 
für ihre Arbeit. Diese ihre Arbeit wurde eine gemeinsame, und so bekam 
die Freundschaft einen unerschöpflichen, beständig sich erneuernden Gehalt. 
Der Günstling der Natur und der Prophet der Freiheit begegneten sich in 
den gleichen Kerngedanken für das Leben. 
Sie wirkten mit einer um so größeren Wucht, da sie die verschiedensten 
Kräfte und in der Verbindung, man möchte sagen: das Ganze des Menschen-
	        
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