Full text: Literaturgeschichtliches Lesebuch

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den leidenschaftlichen Erstlingswerken Schillers am Himmel der deutschen 
Dichtung entgegenleuchteten. Die mächtigste Hilfe aber hatte jener Vildungs- 
prozeß von dem stürmischen Drange der Genialität zu maßvoller, formen¬ 
satter, natureiniger Befriedigung im Schönen an der Anschauung des Alter¬ 
tums gefunden. Seit winckelmann die antike Kunstwelt Wiederaufleben 
gemacht, wurde der Verkehr mit der Bildung und Dichtung der Griechen 
immer inniger und vertrauter,- die Fülle des Menschlichen und das Ein¬ 
vernehmen mit der ewigen Natur schien dort, in Homer und Sophokles, 
schon einmal Gegenwart und musterbildliche lvirklichkeit gewesen zu sein. 
Unter dem Himmel Italiens hatte Goethes Genius seine Vollreife erhalten, 
und am Homer erprobte voß wie noch keiner zuvor die neue Fähigkeit 
des deutschen Geistes, sich die Formen fremder Dichtung mit künstlerischer 
Treue zu eigen zu machen. 
Eine Hilfe war dieser Verkehr mit der schönen Welt der Griechen, wie 
er andererseits ein Ersatz für die unergiebigen, in lauter Kleinlebigkeit 
stockenden heimatlichen Zustände war. Er war eben damit eine Zucht für 
die regellose Leidenschaft, für die maßlos schweifende Einbildung, für das 
ins Leere und Unendliche hinausgreifende Gemüt. Noch eine andere Zucht, 
eine rauhe, und gegen die sich die unruhigeren, die üppigeren und weicheren 
Geister widerwillig sträubten, kam uns durch die Philosophie. Der unglaub¬ 
liche Tiefsinn Kants schlug die Brücke zwischen der alten Verstandes- und 
Nufklärungsbildung und der neuen, welche sich auf die vereinten Kräfte 
des Menschen und auf das souveräne Genie stützte. Die nach innen gewandte 
Scheidekunst der Kantschen Kritik, die systematische Fortsetzung der Lessing- 
schen, verengte und demütigte wieder die Prätensionen des Genies, erhob 
aber auf der anderen Seite und spornte die Geister, in der Unterwerfung 
unter das Gesetz des Gewissens sich noch über die Natur und alles Endliche 
hinauszuschwingen, hier traf der große Sinn und die ernste sittliche Natur 
Schillers mit Kant zusammen. Durch die Nnschauung von Goethes Wesen 
und von der auch ihm nahe getretenen Welt des Ultertums emporgehoben, 
wurde er der Dolmetscher Kants und vertiefte er das Gesetz der Pflicht 
zu begeistertem Streben nach sittlicher, in der geschichtlichen Welt sich aus¬ 
lebender Schönheit. 
So reich war die ideale Umgebung, in die sich die nachgeborenen Jünger 
der Sturm- und Drangepoche unserer Literatur bei ihrem Eintreten in die 
Zeit der Mündigkeit hineingestellt fanden! hier war fürs erste, bevor 
nicht die ganze Stellung unseres Volks nach außen und die Stellung der 
Bürger zum Staat eine andere wurde, ein wirklich produktiver Fortschritt, 
ein Fortschritt zu neuen Idealen nicht wohl möglich. Uber die vorhandenen 
idealen Motive alle zusammenzugreifen und sie mannigfaltig zu mischen- 
die edle Bildung, wie sie von schöpferischen Geistern nur eben errungen 
worden, sich ganz zu eigen zu machen und sie gegen die Zurückgebliebenen,
	        
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