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Hoffnung. Nicht an Geist gebreche es den Deutschen- schon sei der Ehrgeiz
der Nation erwacht, „und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle vorher¬
gehenden übertreffen. Ich bin wie Nloses," ruft der Nönig am Ende,
„ich sehe das gelobte Land aus der Ferne, doch bin ich zu alt, um es
je zu betreten."
Nun halte man neben diese Morte des Nönigs Lessings berufene Klage:
der Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen
— in wie seltsamem Irrtum verfingen sich doch die beiden! Der König
erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Kegeln,
und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint, in der
Ferne das gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand
mitten darin. Desgleichen der Dichter, der so schmerzlich fragte nach dem
Nationalcharakter der Deutschen — hätte er lesen können in der Seele jener
preußischen Soldaten, die bei Koßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen
in der lvinternacht das „Herr Gott Dich loben wir" fangen, gewiß, er hätte
begriffen: die lebendige Ztaatsgesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie,
doch sie war im Werden. So standen die beiden im Nebel der Nacht:
der König, der einen Lessing suchte für unsere Kunst, und der Dichter, einen
Friedrich suchend für unseren Staat. Inzwischen ist es Tag geworden, die
Nebel sind gefallen, und wir sehen die beiden dicht nebeneinander auf
demselben Wege: den Künstler, der unserer Dichtung die Bahn gebrochen,
und den Fürsten, mit dem das moderne Staatsleben der Deutschen beginnt.
20. Herder.
ñus Eugen Kühnemann, Herders Leben. München 1895, Beck.
Wenn man zu einem Deutschen von Lessing spricht, steigt vor seinen
Ñugen eine ganz bestimmte und gleichsam fühlbare Gestalt auf. Wenn
man ihm den Namen Herders nennt, regt sich in seiner Seele nichts als
eine verschwommene Erinnerung. Er schaut uns mit der kleinen Ver¬
legenheit an, die uns befällt, wenn wir uns bewußt find: wir müßten davon
wissen und wissen doch nichts.
Cs ist der große Zug der Tapferkeit und Frische, der durch das Lessingsche
Leben geht, welcher ihn jedem Kämpfer zum Freunde und verehrungswürdig
vertraut macht. Über das Literarische hinaus, ja ganz jenseits des Litera¬
rischen liegt die eigentümliche Lebendigkeit Lessings. Cr ist uns in unserm
Kampfe mit dem Leben der tapfere, mitkämpfende Genoß. Cr ist uns —
gleichgültig, wovon er auch reden und schreiben mag — der Mensch, der
das Leben meistert und überwindet.
Nicht in diesem Sinne durchsichtig und unserm Leben angehörig empfinden
wir Herder.