Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere katholische Schulen

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und herfahren, stand vor etwa 300 Jahren eine baufällige Mahlmühle. 
Das Schieferdach war ganz mit Moos überzogen, der Schornstein halb 
eingestürzt, die Mauer gegen den Bach zu voll arger Riffe, und die Rad¬ 
stube in sich zusammengesunken. Jedermann, der das Wasserrad gehen sah, 
wunderte sich über die kühnen Leute, die zwischen solchen Mauern und unter 
einem solchen Dache schlafen mochten. Dieß waren aber nur zwei Personen, 
die Besitzerin der Ruine, ein altes blindes Weib, und ihr einziger Sohn, 
ein gesunder rüstiger Bursche. Und diese würden gar gern gebaut haben, 
wenn sie nur Geld gehabt hätten, die Maurer und Zinnnerleute zu bezahlen. 
Eine junge und reinlich gehaltene Kuh im kleinen stalle focht aber der 
Greuel der Verwüstung nicht im Geringsten an, und sie that daran fast 
weislicher, als der vorüberziehende Krämer ans Schwaben, welcher meinte, 
in dieser Hütte müsse der Geiz oder die Liederlichkeit wohnen. Denn der 
selige Müller war weder von jenem noch von diesem Laster ein Freund ge¬ 
wesen, aber von den vorüberziehenden feindlichen Scharen zweimal rein 
ausgeplündert worden und vor Kummer über das Herabkommen seines 
Hauswesens gestorben. Der Pfarrer von Treuchtliugen hielt ihm umsonst 
eine Leichenpredigt über die Textesworte: „Er heißet Herr, und freuet euch 
vor ihm, der ein Vater ist der Waisen und ein Beschirmer der Wittwen." 
— Er tröstete aus dieser Verheißung die Wittwe mit ihrem Sohne und 
betete für sie. Sein Gebet wurde von dem Herrn auf eine ganz besondere 
Weise erhört. 
„Ehe sich die alte Müllerin mit ihrem Sohne zu Tische setzte, pflegte 
sie immer mit lauter Stimme zu beten: „Komm', Herr Jesu, sei unser Gast, 
und segne, was du bescheret hast" — und zwar so, daß man leicht merken 
konnte, sie wisse und denke daran, mit wem sie spreche, wenn sie den Mund 
zum Gebet anfgethan habe, llnd da erging es ihr denn auch, wie weiland 
der Wittwe von Zarpath oder Sarepta. 
„Ritter Ulrich von Treuchtliugen, der in der ganzen Umgegend nur der 
goldene genannt wurde, weil er durch eine christliche Wirthschaft reicher ge¬ 
worden war, als alle seine freiherrlichen Nachbarn weit und breit, ging an 
einem Herbstabende an dem offenen Fenster vorüber, gerade als die Müllerin 
in ihrer Stube wieder wie gewöhnlich betete: „Komm', Herr Jesu, sei unser 
Gast, und segne, was du bescheret hast!" — Der goldene Ritter war aber 
allein und hatte, um nicht in seinem Vergnügen, der Jagd, gestört zu werden, 
seine Leute mit den vielen und schönen Sachen vorausgehen lassen, die er zur 
Aussteuer seiner einzigen Tochter und Erbin in der Reichsstadt Weißenburg 
gekauft hatte. Darum hinderte ihn auch nichts, stehen zu bleiben und bei sich 
zu sprechen: „In manchem Hause, an dem ich vorüber ging, habe ich schon 
beten hören; aber gegen dieses Beten war es nur immer ein Plappern der 
Heiden, und es gelüstete mich nie, unter solche Beter zu treten. Mit den Leu¬ 
ten in diesem Hause muß ich näher bekannt werden. An meinem Wams wer¬ 
den sie mich nicht erkennen, denn es sieht aus wie eine Wiese im November." 
„Und er schob die hölzernen Riegel der Haus- und Stnbenthür zurück, 
trat an den Tisch und sagte in der freien Weise eines Forstmannes: „Guten 
Abend! Der Herr Jesus kann heute nicht selber kommen und schickt mich statt 
seiner." — Dann setzte er sich ohne Umstände auf die Bank an der Wand. 
Auch die Wittwe und ihr Sohn fragten nicht erst lange, wohin und woher? 
sondern der junge Müller reichte ihm einen saubern hölzernen Löffel aus der 
Tischlade zu dem Mehlbrei, und die Alte sagte: „Effet, so viel euch beliebt, 
und thut, wie zu Hause." Und während nun der Brei unter dem langsam 
schöpfenden Löffel immer tiefer siel, wie das Wasfer in einem abgelassenen
	        
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