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und Mäuse waren Leckerbissen; Nesseln, Distelköpfe und Wur¬
zeln wurden begierig verschlungen, Schild - und Schuhleder ge¬
kocht und daran genagt, ja Manche stiegen in die Grüfte hinab,
und stillten ihren Hunger an den erst kürzlich verscharrten Leich¬
namen der Türken. Solche gräßliche Uebel sind Hunger und
Durst, daß sie den Ekel des Menschen so gänzlich vertilgen, daß
er nur Einen Gedanken hat: den Magen zu füllen und den
Gaumen zu netzen! Wohl uns, daß uns diese schrecklichsten Pla¬
gen des Menschengeschlechts so gut als fremd sind! — Selbst
der edle Gottfried hatte zuletzt weder ein Pferd mehr, noch Geld,
ein neues zu kaufen. Die Menschen schlichen wie Schatten um¬
her, selbst ein Graf von Flandern mußte sein Brot zusammen¬
betteln, und die Soldaten weigerten sich in wilder Verzweiflung,
fernerhin Dienste zu thun. Jeder verkroch sich in seiner Woh¬
nung, um hier in dumpfer Erstarrung Hinzusterben.
Aber plötzlich änderte sich wie durch Einen Schlag die ganze
Scene. In unbändigem Freudentaumel läuft Alles durcheinan¬
der; der Geist'eines neuen Lebens ergießt sich durch die ganze
verödete Stadt. Alle vergessen des Hungers, und verlangen nur
gegen den- Feind geführt zu werden. Und was hat diesen plötz¬
lichen Wechsel hervorgebracht? Sind etwa einige Tausende von
Wagen mit Zufuhr angekommen? Ist ein großes Magazin ent¬
deckt?- — Alles nicht. Man höre, was vorgegangen war. —
— Ein Priester aus der Provence, Peter Barth elemy, trat
vor die Fürsten, und bezeugte: ein sonderbares Erekgniß habe
sich mit ihm zugetragen. Der heilige Andreas sey ihm in drei
verschiedenen Nächten erschienen, und habe ihm gesagt/ daß vor
dem Hochaltar der Peterskirche in Antiochia in der Erde die hei¬
lige Lanze liege, mit welcher der römische Kriegsknecht die Seite
des Heilands verwundet habe. Dann habe er ihm befohlen, die
Kreuzfahrer zu ermuntern, sie auszugraben; denn mit ihr würden
sie siegen. Er habe den Befehl das erste und zweite Mal ver¬
nachlässigt; da sey der Heilige das dritte Mal sehr zornig er¬
schienen, und habe ihm den Tod gedroht, wenn er nicht augen¬
blicklich die Stelle den Kreuzfürsten entdecke. Alle staunten über
das Gehörte, aber erst als er einen Eid ablegte, glaubten sie ihm.
Das Gerücht von der Erscheinung durchflog schnell die Stadt;
die halbverhungerten Kreuzfahrer horchten hoch auf; denn nur
Weltgeschichte für Töchter. II. 7