Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere katholische Schulen

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Der hohe stolze Eichbaum spricht: 
„Ich zitt're vor ^Gottes Blitzen: 
Sonst ist kein Sturm, mich zu beugen, stark. 
Kraft ist mein Stamm, und Kraft mein Mark; 
Ihr Schwächen:, euch will ich schützen!" 
Die Epheuranke that an ihn 
Sich inniger nun fügen: 
„Wer für sich selbst zu schwach und klein, 
Und wer nicht gerne steht allein, 
Mag an den Freund sich schmiegen." 
Drauf sprachen sie so vieles noch, 
Ich hab' es halb vergessen; 
Doch hört' ich noch manch' kluges Wort, 
Es schwiegen nur am Grabe dort 
Die traurigen Cypresfen. 
Wie kommt es, daß die Sprüchlein all' 
Kein Menschenherz doch trafen? 
Die Antwort ist so schwierig nicht: 
Die Bäume Pred'gen beim Sternenlicht, 
Da aber müssen wir schlafen. 
Anastasius Grün. 
53. Der Wäume Gedanken. 
2m Walde da regt sich ein Plaudern und Flüstern, 
Wenn kühlende Dämmerung ladet zur Ruh'! 
Da stehen sie traurig beisammen im Düstern, 
Die Buchen und Eichen, die Tannen und Rüstern*), 
Und schicken viel heimliche Reden sich zu. 
„Ihr Schwestern, ich will's im Vertrauen euch sagen," 
Nimmt rauschend die Eiche, die stolze, das Wort; 
„Mich treibt es, hinauf in den Himmel zu ragen, 
Bis über die Wolken die Krone zu tragen, 
Stets höher zn tragen, Jahrhunderte fort." 
„So hoch sich erheben! Mir bangte vor Blitzen!" 
Entgegnet die Buche, die tüchtige, drauf. 
„Mir genügt es, bescheiden unb wacker zu nützen, 
Die Müden zu schirmen, die Armen zu schützen, 
Wie zehrt' ich im Eifer so gerne mich auf!" 
„Nein," schüttelt die Birke die zierlichen Locken, 
„Mir fließt in den Adern ein leichtes Geblüt, 
So lange die Freuden mir leuchten und locken, 
So will ich mich freu'n, eh' die Säfte mir stocken; 
Das Leben ist flüchtig, die Jugend verblüht." 
„Das ewige Grünen! Das ewige Freuen!" 
Erwidert die Tanne, die strengere, nun; 
„Der Lust bin ich müde; mich sollt' es nicht reuen, 
Die grünenden Nadeln zur Erde zu streuen, 
Auf immer zu schlummern, auf immer zu ruh'n." 
Sahlweide dagegen: „O fröhliches Leben, 
Die Zweige zu wiegen im sonnigen Blau, 
Die Falter zu schauen, ihr Schillern und Schweben; 
Zu trinken, wie würzige Säfte der Reben, 
Mit durstigen Zügen erquickenden Thau!" 
') Ulmen.
	        
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