Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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Eine Frühlingsnacht. 
Im Zimmer drinnen ist's so schwül; 
Der Kranke liegt aus dem heißen Pfühl. 
Im Fieber hat er die Nacht verbracht; 
Sein Lerz ist müde, sein Auge verwacht. 
Er lauscht auf der Stunden rinnenden Sand; 
Er hält die Uhr in der weißen Land. 
Er zählt die Schläge, die sie pickt, 
Er forschet, wie der Weiser rückt; 
Es fragt ihn, ob er noch leb' vielleicht, 
Wenn der Weiser die schwarze Drei erreicht. 
Die Wartfrau sitzt geduldig dabei, 
Larrend, bis alles vorüber sei. — 
Schon auf dem Lerzen drückt ihn der Tod — 
Und draußen dämmert das Morgenrot. 
An die Fenster klettert der Frühlingstag, 
Mädchen und Vögel werden wach. 
Die Erde lacht in Liebesschein, 
Pfingstglocken läuten das Brautfest ein; 
Singende Bursche ziehn übers Feld 
Äinein in die blühende, klingende Welt. — 
Und immer stiller wird es drin; 
Die Alte tritt zum Kranken hin. 
Der hat die Lände gefaltet dicht. 
Sie zieht ihm das Laken übers Gesicht. 
Dann geht sie fort. Stumm wird's und leer; 
Und drinnen wacht kein Auge mehr. 
1. Januar 1851. 
Sie halten Siegesfest, sie ziehn die Stadt ent¬ 
lang; 
Sie meinen Schleswig-Lolstein zu begraben. 
Brich nicht, mein Lerz! Noch sollst du Freude 
haben; 
Wir haben Kinder noch, wir haben Knaben, 
And auch wir selber leben, Gott sei Dank! 
Weihnachtsabend. 
1852. 
Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll, 
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Laus. 
Weihnachten war's; durch alle Gaffen scholl 
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus. 
Und wie der Menschenstrom mich fortgespült 
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr: 
„Kauft, lieber Lerr!" Ein magres Ländchen 
hielt 
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor. 
Ich schrak empor, und beim Laternenschein 
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht; 
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein, 
Erkannt' ich im Vorübertreiben nicht. 
Nur von dem Treppenftein, darauf es faß. 
Noch immer hört' ich, mühsam, wie es schien: 
„Kauft, lieber Lerr!" den Ruf ohn' Unterlaß; 
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn. 
And ich ? — War's Ungeschick, war es die Scham, 
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind? 
Eh' meine Land zu meiner Börse kam. 
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind. 
Doch als ich endlich war mit mir allein, 
Erfaßte mich die Angst im Lerzen so. 
Als säß' mein eigen Kind auf jenem Stein 
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh. 
Für meine Söhne. 
Lehle nimmer mit der Wahrheit! 
Bringt sie Leid, nicht bringt sie Reue; 
Doch, weil Wahrheit eine Perle, 
Wirf sie auch nicht vor die Säue! 
Blüte edelsten Gemütes 
Ist die Rücksicht; doch zuzeiten 
Sind erfrischend wie Gewitter 
Goldne Rücksichtslosigkeiten. 
Wackrer heimatlicher Grobheit 
Setze deine Stirn entgegen; 
Artigen Leutseligkeiten 
Gehe schweigend aus den Wegen! 
Wo zum Weib du nicht die Tochter 
Wagen würdest zu begehren, 
Latte dich zu wert, um gastlich 
In dem Lause zu verkehren. 
Was du immer kannst, zu werden, 
Arbeit scheue nicht und Wachen; 
Aber hüte deine Seele 
Vor dem Karriere-Machen! 
Wenn der Pöbel aller Sorte 
Tanzet um die goldnen Kälber, 
Latte fest: du hast vom Leben 
Doch am Ende nur dich selber.
	        
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