Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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aussieht! Wie die wasserholenden Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale 
Wind! — 
„Gehorsamster Diener, Lerr Professor Niepeguk! Auch im ersten Schnee?" 
„Ärztliche Verordnung!" brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so gut 
es Würde und Hypochondrie erlauben. 
Auf der Sophienkirche schlägt's jetzt! — Erst vier? und schon fast Nacht! — 
„Vier!" wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt. Jetzt sind die Schulen 
zu Ende! Lurra — hinaus in den beginnenden Winter: die Buben wild und unbändig, 
die Mädchen ängstlich und trippelnd, dicht sich an den Läuserwänden hinwindend. 
Lier und dort blitzt nun schon in einem dunkeln Laden ein Licht auf, immer 
geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse. 
Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam betrachtet 
er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen, schwarzen Rockärmel. 
Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen Dichter. — Ganz aufgeregt 
schritt ich hin und her; vergessen war die böse Zeit; auch mir war, wie weiland dem 
ehrlichen Matthias, ein großer Gedanke „aufs Lerz geschossen". „Ich führe ihn aus, 
ich führe ihn aus!" brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief; wie 
verwundert mich auch alle meine Quartanten und Folianten von den Büchergestellen 
anglotzten, wie spöttisch auch das Allongeperückengesicht auf dem Titelblatt der dort 
aufgeschlagenen Schwarte hergrinzte! 
„Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!" 
„Eine Chronik der Sperlingsgasse!" 
Ein Kinderkopf drückt sich drüben im Lause gegen die Scheibe, und der Lampen- 
schein dahinter wirft den runden Schatten über die Gasse in mein dunkles Fenster und 
über die Büchergestelle an der entgegengesetzten Wand. Ein gutes, ein glückliches 
Omen! Grinzt nur, ihr Meister in Folio und Quarto, ihr Aldinen und Elzeviere! 
Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse; eine Chronik der Sperlingsgasse! Ich mußte 
mich wirklich setzen, so arg war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und 
benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen Gedanken und 
einen letzten Blick hinauszuwerfen in den ersten Schnee. Bah! — Wo war er 
geblieben? Wie ein guter Diener war er, nachdem er die Ankunft seines Meisters, 
des gestrengen Lerrn Winters, verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur zu 
hinterlassen. 
-t- 
Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden, 
ewig neuen Bilder dieses großen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten 
Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verschwimmen sie, mehr und mehr fließen 
sie ineinander. Ich bin mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem Llbergang 
vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des 
Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle, träum- und geistervolle Nacht über alles, 
Gutes und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die Zeit, wo 
die Erinnerung an die Stelle der Lofsnung tritt. 
Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar dasselbe Lächeln, dasselbe 
Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her, wie vor langen blühenderen 
Jahren, aber, wenn auch Freude und Leid dieselben geblieben sind auf der alten 
Mutter Erde: die Gesichter selbst sind mir fremd — ich bin allein! — Allein — und 
doch nicht allein. Aus der dämmerigen Nacht des Vergessens taucht es auf und 
klingt es; Gestalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst 
gern sah und hörte in vergangenen bösen und guten Tagen, werden wieder wach und 
lebendig; tote, begrabene Frühlinge sangen wieder an zu grünen und zu blühen
	        
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