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helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden
ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieser Stelle werdet ihr es fast zu verlieren glauben,
an jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache reden
in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und Finden der Auswege,
— Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande!
So fahre ich fort:
Es war, wie gesagt, ein trauriger, unheimlicher Tag; aber nicht er war es,
welcher damals so schwer auf meine Seele drückte. An jenem Tage sah ich von dem
Fenster dort drüben die Fenster der Kammer meiner jetzigen Wohnung weit geöffnet trotz
der Kälte, trotz dem Regen. Die weißen Vorhänge waren herabgelassen und an den
Seiten befestigt, damit der Wind, welcher sie heftig hin und her bewegte, sie nicht abreiße.
Der Tod hatte seine finstere, kalte Äand trennend auf ein glückliches Zusammen¬
leben gelegt; der kleine Stuhl dort unter dem Efeugitter auf dem Fenstertritt vor dem
Nähtischchen war leer geworden.
Marie Ralff war tot! — —
Ich sah von meinem Fenster aus hier eine Gestalt im Zimmer auf und ab gehen.
Armer Franz! Armes kleines Kind! Armer — Johannes! Sie war so lieblich, so
jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen im Arm!
Da hängt im Museum der Stadt ein kleines Madonnenbild, wo die „Lln-
berührbare" den auf ihrem Schoß stehenden kleinen Jesus gar liebend-verwundert und
mütterlich-stolz betrachtet. Dem Bilde glich sie, die ebenso blondlockig, ebenso heilig,
ebenso schön war, und oft genug bleibe ich vor diesem Bilde, einem Werk des
spanischen Meisters Morales, den seine Zeitgenossen „el divino“ nannten, stehen, alter,
vergangener schöner Zeiten gedenkend.
O, ich liebte sie so, ich hatte so gelitten, als sie mich nur „Freund" und ihn,
meinen Freund Franz Ralff, „Geliebter" nannte. And jetzt war sie tot; einsam hatte
sie uns zurückgelassen! Der Abend sank tiefer herab, und die Dämmerung legte sich
zwischen mich und das Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hinüber! Als
ich eintrat, schritt Franz immer noch auf und ab; er schien mich nicht zu bemerken,
und still setzte ich mich in den Winkel neben die Wiege, wo Martha, die Wärterin,
über dem Kinde wachte, welches ruhig schlief und die kleinen Äände zum Mündchen
hinaufgezogen hatte.
Zch weiß nicht, wielange ich da gesessen habe, ich weiß von keinem meiner Ge¬
danken in jener Nacht Rechenschaft zu geben. Die tiefe Stille, die auf der großen
Stadt lag, ließ nur das Gefühl mich überkommen, als ob das Leben auch dieses
zuckende, bewegte Äerz eines ganzen großen Landes verlassen habe, als ob das leise
Picken der Wanduhr das letzte verklingende Getön des Weltrades sei und die ewige
Stille nun binnen kurzem alles Leben zurückgeschlürft haben würde.
Das leise Weinen des Kindes neben mir erweckte mich endlich; Franz legte mir
die Land auf die Schulter und fiel dann plötzlich erschöpft auf einen Stuhl neben mir.
„Gute Nacht, Johannes", sagte er, den Kopf an meine Brust legend, „morgen
wollen wir sie begraben!" —
Es waren die ersten Worte, die er an dem Tage sprach.
Am 3. Dezember.
0 cara, cara Maria vale!*)
Vale cara Maria!
Cara, cara Maria vale!
Es war ein berühmter Dichter, welcher dies auf den Grabstein einer geliebten
Abgeschiedenen setzte; er hatte treffliche, herzerschütternde Gesänge gesungen; hier wußte
er nichts weiter als diese drei Worte, herzzerreißend wiederkehrend, And jenes:
'■) Liebe Maria, lebe wohl!