Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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2. Heinrich Seidel. 
!. Weinlese bei Leberecht Äühnchen. 
Ein Kapitel aus der Lebensgeschichte Leberecht Lühnchens, eines merkwürdigen, kindlich 
guten, fröhlichen Menschen, der mit wenigem zufrieden und darum glücklich ist. 
Llnterdes ist es Leberecht Lühnchen recht gut gegangen. Er hat seine Stellung 
in der Fabrik vor dem Oranienburger Tor mit einer solchen an einer Eisenbahn ver¬ 
tauscht und bei dieser Gelegenheit eine kleine Verbesserung seines Gehaltes erfahren. 
Zudem ist ihm ganz unerwartet eine kleine Erbschaft zugefallen, welchen Llmstand er 
sofort benutzt hat, einen langjährigen Lieblingsplan auszuführen, nämlich sich ein eigenes 
Laus mit einem Gärtchen dabei anzuschaffen. Im letzten März kam er eines Tages 
zu mir und ging nach der ersten Begrüßung, ohne weiter etwas zu sagen, die Daumen 
in die Ärmellöcher seiner Weste gesteckt, im Zimmer auf und ab, indem er sich sichtlich 
ein gespreiztes und geschwollenes Ansehen zu geben suchte. Nachdem ich eine Weile 
mit Verwunderung diesem Treiben zugesehen hatte, stellte er sich breitspurig vor mich 
hin und fragte, indem er mit leuchtenden Augen mich triumphierend anblickte: „Bemerkst 
du gar nichts an mir?" 
„Es scheint mir," sagte ich, „daß du sehr gut gefrühstückt hast." 
„Nicht im geringsten," sagte er, „aber bemerkst du nicht etwas Wohlhabendes, 
ja fast Protzenhaftes an mir? Sieht man mir nicht auf hundert Schritte an, daß ich 
Grundeigentümer und Hausbesitzer bin?" 
Ich war ganz erstaunt über diese unerwartete Tatsache. 
„Ja, cs ereignen sich wunderliche Dinge," sagte er, stellte sich vor den Spiegel 
und nickte seinem Bilde wohlwollend zu: „So sieht man also aus?" fuhr er fort. 
„Lier unterhalb fehlt's noch. Eine gewisse wohlhabende Rundung des Bäuchleins 
scheint mir das zu sein, wonach ich zunächst zu streben habe. Auf dieser Grundlage 
würde dann eine goldene Llhrkette von hinreißender Wirkung sein." 
„Vor allen Dingen befriedige meine Neugier," sagte ich, „was hat dies zu 
bedeuten?" 
„Weiter nichts," war die Antwort, „als daß ich mir gestern in Steglitz ein 
Laus gekauft habe mit einem Garten — ein reizendes Läuschen! Es ist zwar nur 
klein, aber sehr niedlich. Du mußt nicht denken, daß es eine sogenannte Villa ist 
— Säulen und Karyatiden und ornamentales Gemüse sind gar nicht daran. Ich 
hab's von einem Schuster gekauft, der nach Amerika geht. Es riecht darin ziemlich 
nach Leder und Pech, aber das gibt sich, wenn ich es erst tapeziert habe. Der 
Garten ist entzückend, das heißt wie ich ihn mir denke, wenn ich ihn erst bepflanzt 
habe; denn augenblicklich ist gar nichts drin als ein kleiner Nußbaum und ein Birn¬ 
baum. Der Schuster schwört, es seien Bergamotten. Am Lause ist ein junger 
Weinstock, der im vorigen Jahre, wie mir derselbe Mann unter Flüchen beteuerte, 
bereits sieben Trauben „von eine jute süße Sorte" getragen hat. Denke dir, das 
wächst alles und vermehrt sich. Stelle dir vor, was ich an Obst dazu pflanzen werde, 
natürlich nur die edelsten Arten, denn der Platz ist kostbar. Was meinst du zu 
einem Mistbeet? Würdest du es für einen unverantwortlichen Luxus halten, wenn 
ich Melonen züchtete? 
An die Schattenseite des Lauses wird Efeu gepflanzt, an die Westseite Rank¬ 
rosen. Schließlich soll es ganz besponnen und berankt sein, wie es immer in den 
Geschichten vorkommt, wenn die Dichter ein idyllisches Glück schildern wollen. Oben 
liegt eine Giebelstube mit der Aussicht auf den Garten, wunderbar geeignet für eine 
alte Dame, die Blumen malt, oder einen Junggesellen, der Verse macht. Dieses 
Zimmer wollen wir vermieten. Es soll uns einen nicht unbedeutenden Beitrag zur 
Verzinsung des hineingesteckten Kapitals liefern. Am 1. April wird eingezogen.
	        
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