Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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Lore und die Kinder sind fast außer sich vor Entzücken. Siehst du, das ist die große 
Neuigkeit." 
Ich suchte, so gut ich vermochte, an dem Entzücken des guten Freundes teil¬ 
zunehmen und gab das Versprechen ab, nach geschehener Einrichtung dies gepriesene 
Idyll zu besichtigen. Eines Sonntags am Ende des April fuhr ich zu diesem Zwecke 
nach Steglitz und ward mit großer Freude von der Familie Hühnchen begrüßt. Wie 
ich mir schon gedacht hatte — es war ein kleines, erbärmliches Häuschen; aber was 
die Leute draus gemacht hatten, das war wunderbar. Anten enthielt es außer einem 
kleinen Vorraum eine winzige Küche und drei Zimmer, deren eines aber so eng wie 
ein Vogelbauer war und lebhaft an Hühnchens Schlafzimmer in Hannover erinnerte, 
woselbst er sich die Stiefel nicht anziehen konnte, ohne die Tür zum Nebenzimmer 
zu öffnen. In dieses Stübchen führte mich Hühnchen zuerst und zwar mit besonderer 
Wonne: 
„Siehst du, lieber Freund," sagte er, „alle Früchte reifen allmählich an dem 
Baum der Erfüllung und fallen einem lieblich in den Schoß. Mein langjähriger 
Wunsch, seit ich verheiratet bin, ein Stübchen ganz für mich zu haben, ist nun auch 
erfüllt." 
Ich schaute in dem kleinen Raum umher. Vor dem Fenster stand ein Tisch, 
mit grünem Stoff bis zum Fußboden behängen, und füllte die ganze Breite des 
Zimmers aus. Zwei Stühle und ein Bücherbrett waren sämtliche übrigen Möbel — 
mehr war auch nicht gut unterzubringen. An der Wand, dem Bücherbrett gegen¬ 
über, hingen „anmutig gruppiert", wie Hühnchen sich ausdrückte, die Photographie 
einer Lokomotive, die Bilder seiner Eltern und vieler Freunde. Das technische Museum, 
den Ahnensaal und den Freundschaftstempel nannte er das. Jetzt deutete er mit einer 
listigen Verschlagenheit in Blick und Wesen auf den grünbehangenen Tisch, der mit 
Schreibutensilien und alten Büchern bedeckt war, und sagte: 
„Sieht dieses Möbel nicht merkwürdig opulent und fast prunkvoll aus — 
nicht wahr? Eine gewisse erhabene Großartigkeit kommt darin zum Ausdruck?" 
Ich bestätigte dies lächelnd. 
„Blendwerk der Hölle!" sagte Hühnchen, hob die Decke empor und sah mich 
triumphierend an. Es zeigte sich, daß dieser Tisch weiter nichts war als eine große 
Kiste, mit der Öffnung nach vorn auf die Seite gelegt. 
Wir besichtigten dann die anderen Räume der Wohnung, und ich fand alles 
so behaglich, freundlich und sauber, wie es mit den einfachen Möbeln nur erzielt 
werden konnte. Dann ging's in den Garten. Es war unglaublich, was auf diesem 
kleinen Raum alles gesäet und gepflanzt war. Dort befand sich ein Kartoffelfeld in 
der Größe von vier Quadratmetern und außerdem alle nur denkbaren Küchengewächse 
auf Beeten von den winzigsten Dimensionen. 
„Ich habe vor allen Dingen eine große Reichhaltigkeit der Bebauung angestrebt," 
sagte Hühnchen. „In dieser Hinsicht soll der Garten ein Glanzpunkt dieser Besitzung 
werden." 
Er zog ein Papier aus der Tasche und breitete es vor mir aus: „Der 
Bebauungsplan!" sagte er wichtig. „Wird alljährlich angefertigt, um einen rationellen 
Fruchtwechsel beobachten zu können." 
In verschiedenen zarten Farben waren dort alle Beete verzeichnet und mit 
zierlicher Rundschrift bei jedem die Art der Bepflanzung angemerkt. Bei dein Nu߬ 
baum, der durch einen kleinen grünen Kreis angedeutet war, sah ich ein schwarzes 
Viereck mit der Überschrift: „Hänschen". 
„Was ist das?" fragte ich. 
„Dort liegt Hänschen begraben," antwortete Hühnchen, „unser guter Kanarien¬ 
vogel. Er muß sich beim Amzug erkältet haben, denn gleich nachher blies er sich auf und 
kränkelte. Lore will gehört haben, daß er gehustet har, allein das ist wohl ein Irrtum.
	        
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