Vorwort zur sechsten Auflage.
Der vorliegende zweite Abschnitt des von mir herausgegebenen deutschen
Lesebuchs für die oberen Klassen höherer Lehranstalten*) enthält in literatur¬
geschichtlichem Rahmen, also in historischer Ordnung, Poetische Proben aus dem
16., 17., 18. und 19., prosaische aus dem 16., 18. und 19. Jahrhundert.
In der Poesie wurde nur das im hervorragenden Sinne Klassische oder
das für eine Periode oder einen Schriftsteller entschieden Charakteristische oder
endlich das für die freie, einheitliche Entwicklung des deutschen Geisteslebens in
Religion, Sitte, Kunst, Wissenschaft, Sprache und Volkstum Bedeutungsvollste
aufgenommen. Auch konnten AbdruÄe ans Dichtern, die nach dem Erscheinen
guter, billiger Volksausgaben in den Händen jedes Bildungsnchenden sind, wie
Schiller, Uhland, Körner, Schenkendorf u. a., gespart werden; doch ist darum
eine Angabe ihrer für die Schule besonders beachtenswerten Leistungen nicht
vorenthalten worden. So erscheinen denn unter den berücksichtigten Dichtern
in vollerem Maße ausgezogen nur: H. Sachs, Fischart, Klopstock, Herder,
Goethe, Hölderlin, Rückert, Platen, Geibel. Die zu lesenden dramatischen
Dichtungen blieben ausgeschlossen. In der Prosa bietet unsere Literatur eine
so reiche Fülle von Mustern für alle Arten der historischen, besonders be¬
schreibenden, sowie der abhandelnden und rhetorischen Darstellung, daß nicht
wenige Lesebücher bei ganz verschiedener Auswahl ihres Inhalts doch aus gleiche
Klassizität desselben ihre Berechtigung stützen könnten. Es scheint darum zweck¬
mäßiger, derartige Sammlungen als Früchte einer subjektiven Eklektik der Privat¬
lektüre aus den Schülerbibliotheken zu überweisen und den Klassenunterricht auf
eine kleine Auslese von Abhandlungen zu beschränken, welche vorzügliche Stoffe
für logische, ästhetische, sprach- und literaturgeschichtliche Bildung darbieten.
So sind denn hier außer Luther, dem Begründer der deutschen Prosa, besonders
vertreten (6 Bogen): Lessing, Herder, Jak. Grimm, während die anderen
herangezogenen sieben Prosaiker etwa einen Bogen füllen.
Wenn auch die Literaturgeschichte nur in ihren Grundlinien zu den
Schulwissenschaften gehört, so bedarf doch der reifere Schüler wie jeder Freund
höherer Bildung bei den tausendfachen Beziehungen der Literatur zum modernen
Kulturleben eines literaturgeschichtlichen Handbuchs zur Einrichtung seiner Privat-
lektüre und zum Nachschlagen. Darum sind hier den Proben nicht nur ge¬
drängte Schilderungen und Übersichten, welche die Hauptmomente des Ent¬
wicklungsprozesses der einzelnen Perioden darlegen, sondern auch charakterisierende
biographische Einleitungen vorausgeschickt. Auch sind die meisten Stücke mit
der Angabe ihrer Entstehungszeit, die älteren Sprachproben sowie die mund¬
artliche aus Hebel außerdem mit Glossen versehen. Wo Bruchstücke unvermeid¬
lich waren, ist ihr innerer Zusammenhang durch eingeschaltete Inhaltsangaben
hergestellt worden.
*) Der erste Abschnitt, das „Altdeutsche Lesebuch", bietet Proben in Urtext und Übersetzungen aus der
Literatur des 12. bis 13. Jahrhunderts nebst einer Einführung in die klassische Periode des Mittelalters.