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Geschichte. 
manchen Dezennien zur hochragenden Residenz waffentüchtiger, siegesbedeckter 
Großkönige erkor. 
Sie, das Gestirn der Nacht, ist seit Stunden untergegangen; die Opfer, 
die nach altem Ritual in den ersten Nachtstunden für Ninib und Bau dargebracht 
wurden, sind verraucht. Nur die Sommerglut zittert über den Palmenhainen, 
die selten ein leichter Windhauch aus den nördlichen Höhenzügen streift, und 
unter dem Nebelschleier der den Tigriskanälen entsteigenden Dünste summen 
nachtschwärmende Mücken. 
Einsam verhallt der Tritt der die große Königsburg mit wachsamem Blick 
umschreitenden Wächter. 
Da — was regt sich unten am Ende der langgezogenen Straße, in deren 
Lehmhütten vielbeschäftigte Krämer nächtigen? Wie Fackelschein huscht es über 
die nächsten flachen Dächer und die benachbarten weißgetünchten Kuppeln; 
murmelnde Laute dringen an unser Ohr. Wir treten näher und schließen uns 
einigen Männern in Priesterkleidung an, die jetzt in die Türe eines der statt¬ 
lichen Häuser treten. Schreien, Toben und schreckliches Sichgebürden eines 
Schwerkranken empfängt uns, der von den weinenden Verwandten und ein paar 
gleichgültig blickenden Nachbarn umringt ist. Rasch wird, solange die zauber- 
kräftige Nacht noch wirkt, ein Kohlenbecken entfacht, ein Gefährte des Priesters 
bemächtigt sich des Besessenen, eine Tonfigur wird ihm vorgehalten, der Priester 
ergreift die Hand des Kranken und hebt über ihn zu beten an. 
Dann lautlose Stille. Die ganze Versammlung beugt sich in frommem 
Glauben vor der gemurmelten, heilkräftigen Beschwörung der Nachtgottheiten, 
die jetzt über die Lippen des Magiers kommt. 
Er hat gut und oft bewährte Zauberformeln gewählt; weiß er doch, daß der 
beklagenswerte Nadinu, der hier vor ihm kauert und sich während der Zeremonie 
mehr und mehr zu bezwingen sucht, der teuer geliebte Bruder der schönen Bau- 
gamilat und des einflußreichen Biliqbi ist, des ruhmreichen Zugführers, der sich 
schon in manchem Kampfe ausgezeichnet und neulich dadurch ins Herz seines 
königlichen Herrn geschlichen hat, daß er vom letzten Streifzug nach Nairi zwei 
Exemplare einer hier ganz unbekannten Geierspezies für den königlichen Tier¬ 
garten mitbrachte. Und der reiche Nadinu selber würde die Wiedererlangung 
seiner Geisteskräfte gut zu bezahlen imstande sein! 
Noch ist kein merklicher Einfluß des Zaubers zu verspüren und draußen 
dämmert's — rasch mehr Räucherwerk auf das Becken, die Figur verbrannt und 
ein kräftiger Anruf an dämonenbannende Götter! Starr folgt der Blick des 
Kranken den geschäftigen Bewegungen des Magiers, sein Mund ist verstummt, 
kalter Schweiß bedeckt die Stirne und endlich sinkt er erschöpft auf das nahe 
Lager zurück. — Der Bann ist gebrochen, der Zauber hat gewirkt; rasch enteilt 
der Priester mit den Gefährten. — 
Wir folgen aus die sich jetzt allmählich belebende Straße. Da fällt der 
erste Strahl der majestätisch am weiten Horizont emporsteigenden Sonne auf
	        
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