Full text: Musterstücke deutscher Prosa

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Schmuck verwendet oder sie sind doch vereinzelter Art; daß der Spitz¬ 
bogen zum Grundgesetz des Baues gemacht wäre, daß Gewölbe, Hallen, 
Fenster und Nischen mit seiner Hilfe ausgeführt wären, das treffen 
wir nirgends als in der gotischen Bauweise. Es ist somit eins der 
Hauptverdienste dieses Stiles, daß er die früher willkürlich angewendete 
Form in ihrer Bedeutung erkannt und zum Mittelpunkt seines 
Systemes gemacht hat. Diese Bedeutung aber ist zwiefacher Art. 
Einmal gestattet der Spitzbogen in seiner mehr oder minder steilen 
(lanzetsörmigen) oder stumpfen, gedrückten Erhebung den einzelnen 
Bögen verschiedene Höhe zu geben oder — was wichtiger war — die 
Bögen von verschiedener Spannweite zu derselben Scheitelhöhe empor- 
zusühren. Damit aber verschwand die Notwendigkeit quadratischer 
Gewölbefelder, die den romanischen Stil beherrscht hatte; damit sielen 
die Breiten, weiten Gewölbe der höheren und weiteren Räume fort, 
und das Mittelschiff konnte nun dieselbe Anzahl von Gewölben er¬ 
halten, wie das Seitenschiff, die Anordnung des Grundrisses wurde 
eine freiere, beweglichere, der Gesamteindrnck des Innern ein lebens¬ 
vollerer. Sodann aber vermindert der Spitzbogen wegen der geringeren 
Spannung seiner einzelnen Teile den Seitenschub und wirkt mehr 
nach unten als nach der Seite. Damit verband sich aber eine andre 
wichtige Neuerung. Man errichtete nicht bloß die Quer- und Länge¬ 
gurte aus starken Werksteinen, sondern gab auch den diagonalen 
Linien des Gewölbes ähnlich behandelte Krenzrippen, und erhielt 
dadurch ein festes Gerüst, in welches man die Gewölbekappen mög¬ 
lichst leicht und dünn, als bloße Füllwände aus freier Hand hinein¬ 
mauerte. 
Nun hatte man nicht mehr jene massigen Gewölbe der romanischen 
Zeit, die aus allen Punkten mit gleicher Wucht einen Seitenschub aus¬ 
übten und daher durchweg gleich kräftige Widerlager — starke Mauer¬ 
massen — erheischten. Man brauchte nur die einzelnen Stützpunkte 
zu sichern, brauchte nur da, wo die Gewölbegurte und Rippen im 
Pfeiler zusammentrafen, der Mauer ein kräftiges Widerlager zu 
geben, um die zwischenliegenden Teile als leichte Füllwände behandeln 
oder ganz mit Fenstern durchbrechen zu dürfen. Diese Neuerung 
hatte eine Umwälzung im Gefolge, der die ganze Baukunst ein völlig 
verändertes Aussehen verdankte. Denn nun entstanden an den be¬ 
sonders zu schützenden Punkten die Strebepfeiler und zwischen ihnen 
die weiten, hohen Fenster, welche dem Innern eine bis dahin unge¬ 
ahnte Lichtwirkung zuführten und seinen Charakter gänzlich änderten. 
Aber bei diesen Grundzügen blieb man nicht stehen. Da^man gewöhnlich 
dreischifsige Bauten auszuführen hatte, bei denen die Seitenschiffe weit 
niedriger waren als das Mittelschiff, so vermochte man für die durch 
ihre doppelte Höhe und Weite besonders gefährdeten Gewölbe des 
letzteren ein genügendes Widerlager nicht unmittelbar zu gewinnen. 
Man schlug deshalb von dem zu verstärkenden Punkte der Mittelschiff-
	        
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