Full text: Deutsches Lesebuch für die Obersekunda der höheren Lehranstalten

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Zur Litteraturgeschichte. 
In Trauer und Thränen erblickt Gudrun das Gestade des Normannen¬ 
landes und die Burgen am Seegestade; der alte König redet ihr freundlich 
zu: „Wollt Ihr, edle Jungfrau, Hartmut minnen, fo ist alles dies, was 
Ihr sehet, Euch zu Dienste angeboten, Freude unb Königsehre wartet Euer 
an Hartmuts Seite." Gudrun aber antwortet: „Ehe ich Hartmut nähme, 
eher wählte ich den Tod; hätte es sich bei meines Vaters Leben ehedenl also 
gefügt, so möchte es sein; aber jetzt gebe ich eher mein Leben dahin, ehe ich 
meine Treue breche." Das Wort war schwerer Ernst; denn der wilde 
Normannenhäuptling ergreift im Zorn über diese Antwort die Jungfrau bei 
dein Haare und schleudert sie über Bord iu die See; Hartmut springt ihr 
nach und kann nur eben noch ihre blonden Zöpfe ergreifen, an denen er sie 
in das Schiff zurückzieht. Die Mutter Hartmuts, Gerlinde, empfängt Gudrun 
anfangs freundlich, bald aber, als auch sie umsonst ihre Überredungskunst 
an der Getreuen versucht hat, schreitet sie iu ihrem „wölfischen" Sinne zu 
Gewalt und Mißhandlung; die eine Krone tragen sollte, muß die Dienste 
der niedrigsten Magd verrichten, den Ofen heizen und die Leinwand am 
Meergestade waschen. Aber ihr Herz bleibt geduldig und ihr Sinn treu; 
geduldig und treu durch eine Reihe von Jahren voll sich stets wiederholender, 
stets gesteigerter Demütigungen und Mißhandlungen. 
Da endlich ist die Zeit gekommen, daß in Gndruns Vaterland eine 
Heerfahrt kann gerüstet werdet! zu ihrer Befreiung. Nach langer gefahr¬ 
voller Seereise gelangen die Frieseuhelden aus eitle Insel, voll bereu hohen 
Bäumen aus sie fernher die Normannenburgen aus der See heraufglänzen 
seherl. Gudrun geht, wie sie seit Jahren gewohnt ist, täglich zum Gestade, 
die Leinwand zu waschen, da wird ihr in Vogelgestalt ein Engel (ursprünglich 
eine der Zukunft kundige Meerminne oder Schwanjungfrau, wie deren 
auch int Nibelungenliede erscheinen) gesandt, sie zu trösten; und welchen Trost 
begehrt sie? ihre Rettung aus schmachvoller Dienstbarkeit, aus den schimpf- 
lichen Mißhandlungen und Schlägen der Knechtschaft? „Lebt noch Hilde, 
der armen Gudrun Mutter? lebt Ortwin noch, mein Bruder? und Herwig, 
mein Verlobter? und Horant und Wate, die Treuen meines Vaters?" Und 
kein Wort von ihrer Rettung; den ganzen Tag unterredet sie sich mit ihren 
Gefährtinnen von den Lieben in der Heimat. Aber zorniges Schelten er¬ 
wartet die Getröstete bei ihrer Heimkehr von seiten der argen Gerlind, weil 
sie den ganzen Tag mit dem Waschen zugebracht; und des nächsten Morgens 
muß sie, wiewohl es früh im Jahre, vor Ostern, und nachts ein tiefer 
Schnee gefallen ist, barfuß mit Tagesanbruch durch den Schnee hinaus nach 
dem wilden Meergestade waten, ihre Wäsche zu vollenden. An eben diesen! 
Morgen aber kommen Ortwin und Herwig, Kunde einzuziehen, in einer 
Barke in die Nähe der Stelle, wo die Königstochter, bebend vor Frost im 
nassen Gewände, an der mit Eis strömenden Meerflut und im stürmenden 
Märzwinde, der ihr schönes Haar ihr wild mn Nacken und Schultern
	        
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