Full text: Lese- und Hilfsbuch für den Unterricht im Deutschen an Gymnasien und anderen höheren Bildungsanstalten

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aufgegoren" (Heldenbuch von Iran 2, 356). Aber wohl zu beachten, 
Bewußtsein und Absicht haben an all dem nicht den geringsten Anteil: nicht 
wissentlich und geflissentlich wird dieses verschwiegen und jenes hinzu¬ 
gedichtet, und Wunder werden erzählt, nicht damit man Gott darin 
erkenne, sondern weil man ihn darin erkennt. Jede Sage ist eigentlich 
als Geschichte, als historisch wahr gemeint; aber da man die gegebenen 
Thatsachen von dem Kern und Mittelpunkt der göttlichen Idee heraus 
betrachtet, so kann es bei der menschlichen Gebrechlichkeit und Fehlbarkeit 
nicht ausbleiben, daß man sich in den Außendingen vielfach irrt, daß 
man verwechselt und verstellt, daß man auch sieht, was gar nicht 
vorhanden ist. Diese sagenhafte Art ist es, in der alle Völker ihre Ge¬ 
schichte auffassen, solange sie noch ein natürlicheres, durch Zivilisation 
und Gelehrsamkeit ungetrübtes oder minder getrübtes Leben führen: 
darum beginnt alle Geschichte zuerst mit Sage, nicht bloß die griechische 
und die römische, darum treffen auch die Sagen der verschiedensten 
Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim und überall eben 
Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten Wesen wie auch 
in der Art der Gestaltung überein, und der Schuß des Tell findet sich 
schon Jahrhunderte früher als nordische Sage vor; denn alle sprechen 
die überall einigen göttlichen Ideen aus, die in der Geschichte wahr¬ 
genommen werden, und überall ist es die menschliche Phantasie, die dem 
Gedächtnis bei der Gestaltung der Anschauung wesentliche Dienste leistet. 
Jede Sagendichtung drückt irgend eine in der Geschichte offenbarte 
Idee aus, aber sie rückt dieselbe in das Gebiet der Einbildungskraft und 
läßt die gemeine Wahrheit der Thatsachen aufgehen in die Schönheit: da 
muß denn fortfallen, was zu viel ist und die einheitliche Anschauung der 
Idee behindert; auf der andern Seite fügt die Phantasie wieder hinzu, 
um der lebendigen Mannigfaltigkeit willen, selbst die verbliebenen und 
nicht erfundenen Thatsachen werden oft mit kühnster Freiheit umgebildet. 
Anders die Geschichtsschreibung. Allerdings wird sich auch der rechte 
Historiker niemals der idealen Richtung entschlagen: auch er wird in dem 
geschichtlichen Verlaufe, der ihm vorliegt, die leitende und belebende 
göttliche Idee zu erkennen suchen, sie wird auch ihm Anfang und Ende 
sowohl seiner eigenen Produktion sein als der Reproduktion, die er auf 
Seiten des Lesers bezweckt: aber, und darin beruht nun der große Unter¬ 
schied, er sucht und sieht ihre Offenbarung nicht im Schönen, sondern 
im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen, über denen sie 
schwebt, vom Gebiete des Verstandes her, nicht von dem der Einbildung; 
er verschmäht alles Zuthun der Phantasie und duldet nur die Dienste 
der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen Erkenntnis unschädlich 
ist; er verwirft keine Thatsache, selbst wenn sie die Idee verdunkeln 
sollte, deshalb, weil sie dies thut; er erfindet keine, damit sie die Idee
	        
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