Full text: Ein Hausbuch aus deutscher Dichtung und Prosa für die Zwecke der Frauenbildung

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Goethe. 
Und endlich wieder in einer anderen Richtung nach blühenden Linden. 
Wer hat ihnen aber gesagt: Jetzt fliegt dorthin, da giebt es etwas 
für euch! Und dann wieder dort, da giebt es etwas Neues! Und 
wer führt sie zurück nach ihrem Dorf und ihrer Zelle? Sie gehen wie 
an einem unsichtbaren Gängelbande hierhin und dorthin; was 
es aber eigentlich sei, wissen wir nicht. Ebenso die Lerche. Sie 
steigt sitigend ans über einem Halmenfeld, sie schwebt über einem 
Meere von Halmen, das der Wind hin- und herwiegt und wo die 
eine Welle aussieht wie die andere; sie fährt wieder hinab zu ihren 
Jungen und trifft, ohtie zu fehlen, ben kleinen Fleck, wo sie ihr Nest 
hat. Alle diese äußern Dinge liegen klar vor uns wie der Tag, 
aber ihr inneres geistiges Band ist uns verschlossen/' 
„Sagen Sie mir, wird nicht der, junge Kukuk, sobald er aus¬ 
geflogen ist, auch von andern Vögeln gefüttert, die ihn nicht gebrütet 
haben? Es ist mir, als Hütte ich dergleichen gehört." — 
„Es ist so," erwiderte ich. „Sobald der junge Kukuk sein 
niederes Nest verlassen und einen Sitz etwa in dem Gipfel einer 
hohen Eiche genommen hat, läßt er einen lauten Ton hören, welcher 
sagt, daß er da sei. Nmt kommen alle fleinen Vögel der Nachbar¬ 
schaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es 
kommt die Grasmücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze 
fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, dessen Naturell es ist, beständig in 
niedern Hecken und dichten Gebüschen zu schlüpfen, überwindet seine 
Natur und erhebt sich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zunt 
Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn erzogen hat,. ist 
mit dem Füttern treuer, während die übrigen nur gelegentlich mit 
einem guten Bissen herzufliegen." 
„Es scheint also," sagte Goethe, „zwischen dem jungen Kukuk 
und den kleinen Jnsektenvögeln eine große Liebe zu bestehen." 
„Die Liebe der kleinen Jnscktenvögel zum jungen Kukuk," er¬ 
widerte ich, „ist so groß, daß, wenn man einem Neste nahe kommt, 
in welchem ein junger Kukuk gehegt wird, die kleinen Pflegeeltcrn 
vor Schreck und Furcht und Sorge nicht wissen, wie sie sich gebärden 
sollen. Besonders der Mönch drückt eine große Verzweiflung aus, 
so daß er fast wie in Krämpfen am Boden flattert." 
„Merkwürdig genug!" erwiderte Goethe, „aber es läßt sich 
denken. Doch etwas sehr problematisch erscheint mir, daß z. B. ein
	        
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