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Dann aber ging's hinaus in den Hof, wo sich eben der Zug zum
Abmarsch in den „Wingert" ordnete.
Vorauf schritten etwa zwanzig Mädchen, Arm in Arm in mehre¬
ren Reihen, dann folgten einige Reihen kräftiger Männer und Bur¬
schen, die Legel- oder Büttenträger, und zum Schlüsse tarn Martin,
des Onkels Knecht, mit dem Wagen, der mit allerlei Gefäßen, von
der größten Bütte bis zum kleinsten Kübel, mit der Traubenmühle
und sonstigen: Gerät beladen war. So ging's mit flatternder Fahne,
die ein Bursche trug, zum Tor hinaus; alles war voll Lust und Leben,
voll Lachen und Fröhlichkeit. Unsre Stadtjungen waren mit ganzer
Seele dabei und jauchzten und jubelten mit aus vollem Herzen.
Der Onkel hatte sich mit ihnen dem Zuge angeschlossen, und hinaus
ging's in den frischen, nebelduftigen Oktobermorgen. Aus allen
Häusern kamen größere oder kleinere Scharen von Lesern, denn das
„Herbsten" beginnt für die ganze Gemeinde an demselben Tage,
und es war lauter Sang und Jubel auf der Straße.
So kamen sie an das Ende des Dorfes. Vor ihnen breitete
sich eine Hügelreihe aus, über und über mit Reben bedeckt. Ein
feuchter Nebel verhüllte die Ferne, und durch den duftigen Schleier
drang hier und dort fröhliches Stimmengewirr rrnd lauter Gesang
der Winzer unb Winz erinnern
3. Jetzt brach auch die Sonne durch den Nebel, groß und purpurn
wie eine Feuerkugel, und schickte ihre goldenen Strahler: aus, um die
grauen Nebelmassen aus Flur urrd Feld zu verjagen. Die ganze
Herrlichkeit eines Herbstmorgens irn Rhein- und Weinlande trat
nun irr aller Pracht zutage, rrnd als der fröhliche Zrrg jetzt den Abhang
eirres Hügels erstiegerr hatte, bat der Onkel seine kleinen Besucher,
sich einmal umzuschauen.
Vor ihnen lag, vorn Golde der Morgensonne übergössen, eine
weite, schöne Landschaft: ringsum Weinberg an Weinberg, belebt
vor: denr fröhlichen Getümmel der Menschen. Links zu ihren Füßen,
halb versteckt zwischen Obstbäumen, lachterr die roten Ziegeldächer des
Dorfes herauf; rechts auf dem höchsten Punkte der Gegend winkten
aus Waldesgrün hervor die halb zerfallenen Trümmer einer mittel¬
alterlichen Burg, eirr Denkmal vergangener Zeiten. Vor ihnen aber,
in rricht zrr weiter Ferne, warrd sich silbern und klar ein rrrächtiges
Band durch die Landschaft — der herrliche Rheinstrom!
Stumm und leuchtenden Blicks betrachteten Fritz und Hans
das herrliche Bild, das irn Glanze der Sonne vor ihnen lag, rrnd
lächelnd sagte der Onkel: „Run sagt rrrir einmal, ob es bei uns rricht
schöner ist als bei errch irr der dunrpferr Stadt. Schaut errch eirrrrral
Hcider und Nohl, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. II. Teil. 21