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3. Frau Amme, Frau Amme, der Brunnen ist tief!
Sie schläft, als läge sie drinnen.
Das Rind läuft schnell, wie's nie noch lies,
die Blumen locken's von hinnen.
Nun steht es am Brunnen, nun ist es am Ziel,
nun pflückt es die Blumen sich munter,
doch bald ermüdet das reizende Spiel,
da schaut's in die Tiefe hinunter.
5. Und unten erblickt es ein holdes Gesicht,
mit Augen so hell und so süße.
Gs ist sein eignes, das weiß es noch nicht —
viel stumme, freundliche Grüße!
6. Das Rindlein winkt, der Schatten geschwind
winkt aus der Tiefe ihm wieder!
herauf! herauf! So meint's das Rind,
der Schatten: hernieder! Hernieder!
7. Schon beugt es sich über den Brunnenrand.
Frau Amme, du schläfst noch immer!
Da fallen die Blumen ihm aus der Hand
und trüben den lockenden Schimmer.
8. verschwunden ist sie, die süße Gestalt,
verschluckt von der hüpfenden Melle.
Das Rind durchschauert's fremd und kalt,
und schnell enteilt es der Stelle.
Friedrich Hebbel«
16. Das Tränenkrüglein.
1. Es war einmal eine Mutter und ein Kind, und die Mutier hatte
das Kind, ihr einziges, lieb von ganzem Herzen und konnte ohne das
Kind nicht leben und nicht sein. Aber da sandte der Herr eine große Krank¬
heit, die wütete unter den Kindern und erfaßte auch jenes Kind, daß
es auf sein Lager sank und zum Tod erkrankte. Drei Tage und drei
Nächte wachte, weinte und betete die Mutter bei ihrem geliebten Kinde;
aber es starb. Da erfaßte die Mutter, die nun allein war auf der
ganzen Eotteserde, ein gewaltiger und namenloser Schmerz, und sie aß
nicht und trank nicht und weinte, weinte, weinte wieder drei Tage lang
und drei Nächte lang ohne Aufhören und rief nach ihrem Kinde.
2. Wie sie nun so voll tiefen Leides in der dritten Nacht saß, an
der Stelle, wo ihr Kind gestorben war, tränenmüde und schmerzensmatt
bis zur Ohnmacht, da ging leise die Tür auf, und die Mutter schrak zu-