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III. Griechen und Römer.
22♦ Lokrates.
Der wegen seiner Weisheit gepriesene Sokrates war der Sohn
des Atheners Sophroniskos, eines Bildhauers, und erlernte die
Kunst seines Vaters. Auch hören wir von ihm, daß er an einigen
Feldzügen seiner Vaterstadt Athen teilnahm und sich durch Mut und
Tapferkeit auszeichnete. Ebenso war er ein Muster in der Strenge
der Lebensweise und in der Abhärtung des Körpers. Als er den
Feldzug gegen Potidäa in Thracien mitmachte, war der Winter so
rauh, daß keiner ausging, ohne die Füße in Pelz oder Filz zu wickeln.
Sokrates ging unbeschuht und in derselben Kleidung, die er immer
trug. Doch weder die väterliche Kunst noch das Kriegshandwerk
war es, wozu er sich hingezogen fühlte; vielmehr fand er den wahren
Beruf seines Lebens darin, schöne und geistreiche Jünglinge zu be¬
lehren und durch die Bande der Freundschaft an sich zu knüpfen.
Seine Lehren erteilte er öffentlich, ohne sich dafür bezahlen zu lassen,
und ging durch ein tadelloses und tugendhaftes Leben seinen
Schülern mit dem würdigsten Beispiel voran in einer Zeit, wo in
ganz Griechenland die größte Sittenverderbnis herrschte. Seine
Schüler wußte er so für sich zu gewinnen, daß Antisthenes, der im
Piräus wohnte, täglich den eine halbe Meile weiten Weg in die
Stadt ging, um Sokrates zu hören. Noch mehr that ein anderer
seiner Schüler, Enklides aus Megara. Als die Athener im pelo-
ponnesischen Kriege den Megarensern bei Todesstrafe den Besuch
ihrer Stadt verboten hatten, wagte es Enklides, in Frauenkleidern von
Megara nach Athen zu reisen, einen Weg von vier Meilen, um nur
einen Tag die Unterhaltung des Sokrates zu genießen. Doch wurden
manche seiner Schüler, wie Alcibiades, Kritias und Theramenes,
seinen Lehren untreu; ja, sie sind es gerade, die dem athenischen
Staate verderblich wurden.
Bis in sein siebzigstes Jahr war Sokrates durch Lehre und Bei¬
spiel bemüht, seine Mitbürger zum Guten zu führen; dabei konnte es
aber nicht fehlen, daß ihn viele, denen die Strenge seiner Lehren und
die Rücksichtslosigkeit seines Tadels mißfiel, beneideten und haßten.
Doch erst nach dem Sturze der dreißig Tyrannen erhoben einige Athener
eine öffentliche Anklage gegen ihn, indem sie ihn beschuldigten, daß
er die Jugend verderbe und die Verehrung neuer Götter einführe.
Es war in Athen Sitte, daß sich die Angeklagten vor Gericht
durch kunstvolle Reden verteidigten und durch Bitten und Thränen das