Vorwort.
Nach der Neuordnung des preußischen Mittelschulwesens durch den
Ministerial-Erlaß vom 3. Februar 1910 soll der deutsche Unterricht
auch fernerhin den Mittelpunkt des gesamten Unterrichts bilden. Das
durch den genannten Erlaß für die Mittelschulen geforderte Lesebuch
darf daher nicht nur literarischen Zwecken dienen, um den Schülern
einen „Überblick über die Haupterscheinungen unsrer deutschen
Literatur, hauptsächlich von ihrer zweiten Blüteperiode an",
zu gewähren. Es muß vielinehr auch, der modernen Entwicklung unsers
nationalen Lebens entsprechend, „den fachkundlichen Unterricht beleben
und vertiefen und das Gemüt des Kindes in religiös-sittlicher,
nationaler und ästhetischer Hinsicht pflegen".
Dementsprechend enthält das Lesebuch Proben aus den Haupterschei¬
nungen aller Perioden der deutschen Nationalliteratur bis zur Gegenwart.
Hierbei sind diejenigen literarischen Erscheinungen bevorzugt worden, die
die Eigenart des deutschen Wesens, nanrentlich seine Gemütstiefe, seine
schlichte Innigkeit und seine Neigung zu denkender Betrachtung der Dinge,
am klarsten veranschaulichen. So erklärt sich die in dem Buche enthal¬
tene große Zahl von Sagen und Märchen, von Fabeln und Pa¬
rabeln — Dichtungen, auf die auch der oben genannte Ministerial-
Erlaß besonders hinweist. Neben der Epik und Didaktik ist aber auch die
Lyrik zu ihren: Rechte gekommen, und zwar nicht nur in den ideen¬
reichen und gedankentiefen Balladen Schillers und Goethes, sondern auch
in der frischen Naturlyrik unsrer modernen und modernsten Dichter. Es
sei hierfür nur auf die Sammlung sinniger Naturlieder hingewiesen, mit
der der Abschnitt „Aus dem Naturleben" in den Teilen III und IV des
Lesebuchs eröffnet ist.
Von der Darbietung draniatischer Proben ist grundsätzlich abge¬
sehen worden, da diese Werke, soweit sie dem Verständnis eines Mittel¬
schülers zugänglich sind, möglichst ganz gelesen werden sollen; auch sind
sie in besondern Schulausgaben für sehr geringen Preis erhältlich. Die
einzige Ausnahme macht das Lesestück in Teil III, Nr. 212 aus Uhlands
„Herzog Ernst von Schwaben", das als kulturgeschichtliche Musterdar¬
stellung einer Verweisung in Acht und Bann den Verfassern unentbehrlich
schien.
Hinsichtlich der Anordnung des Lesestoffes haben sich die Ver¬
sager nicht entschließen können, den literaturgeschichtlichen Gesichtspunkt