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206. Das Riesengebirge.
Auf der Grenze zwischen Böhmen und dem preußischen Schlesien
erhebt sich in einer Länge von ungefähr 40 km das Riesengebirge. Die
Sage läßt seine Berge in uralter Zeit von einem mächtigen Riesen¬
geschlechte bewohnt sein, und noch heute ist im Glauben des Volkes
der zaubermächtige Geist des Gebirges, der in übermenschlicher Gestalt
einherschreitet, nicht ausgestorben. Aber das Gebirge verdient in
Wahrheit seinen Namen. Von den Ebenen aus erscheint es als eine
bis über 1100 m steil ansteigende Riesenmauer, die sich in dunkler
Bläue von dem lichten Himmelsgrunde abhebt und einen Eindruck
gewährt, den kein anderes deutsches Mittelgebirge auszuüben vermag.
Ebenso hat eine Wanderung über den Kamm des Riesengebirges im
deutschen Mittelgebirge kein Seitenstück. Der Thüringer Wald ist auch
ein Kammgebirge; aber man wandert auf dem Renusteige, der darüber
hinführt, 6OO m niedriger, noch durch Wald und grasbedeckte Lich¬
tungen. Der Riesengebirgskamm zeigt einen ganz anderen Charakter.
Seine Gipfel und höchsten Abhänge sind mit unzähligen Felsblöcken
übersät, baumlos und nur mit dem eigentümlichen Knieholz bewachsen,
das sich mit seinen uralten, wurzelartigen Stämmen weithin über die
Klüfte legt, von Moosen umgeben ist und viele Hochgebirgspflanzen
in seiner Nähe sieht, so das goldige Alpengebirgskraut, das den Wanderer
nlit seinem gelben Scheine weithin erfreut.
Die gewaltigste Kuppe des Gebirges ist die Schnee- oder Riesen¬
koppe, deren abgerundeter Gipfel 1600 m emporsteigt, die höchste Er¬
hebung des deutschen Mittelgebirges und außer den Alpen der erhabenste
Punkt in Deutschland. Steile Zickzackwege führen zu ihren: Gipfel
hinauf, auf dem eine runde Kapelle und zwei große Bauden stehen.
Zwischen ihnen hin und durch die Kapelle geht die Landesgrenze
zwischen Preußen und Österreich. Seit 1899 ist hier auch eine Wetter¬
warte erster Ordnung.
Bei heiterer Luft ist die Aussicht von der Schneekoppe unbe¬
schreiblich schön. Der Blick schweift von Breslau bis Prag; Schlesien
und Böhmen liegen wie eine Landkarte ausgebreitet. Das Auge
erfreut sich an den hohen Kuppen und Kegeln der benachbarten Berge,
an den im bläulichen Dufte verschwindenden fernliegenden Höhen und
der hinter den Bergen sichtbaren Ebene mit den zahllosen Reichtümern
ihrer Städte und Dörfer und dem bunten Teppich ihrer Fluren und
Wälder. Im fernen Osten zeigt sich gegen Breslau hin der letzte Vor¬
posten des Gebirges, der weit schauende und weit sichtbare Zobten.
Aber nur zu oft ist von dieser herrlichen Rundschau nichts zu sehen;
nur zu oft besteigt der Herr des Gebirges seinen Thron und hüllt